Nach einem langen Tag lässt die vertraute Stimme alle Sorgen verblassen. Ein aufmunterndes Zuzwinkern und der Ärger verfliegt. Dazu eine zärtliche Berührung, vielleicht ein sanfter Kuss, dann tritt alles andere in den Hintergrund. Letzteres fehlt bisher noch. Aber zwischenmenschliche Nähe und räumliche Distanz sind zumindest kein Widerspruch mehr. Digitale Medien und soziale Netzwerke sind heute bewährte Instrumente des sozialen Kontakts. Für Menschen, die in Fernbeziehungen leben oder Familie am anderen Ende der Welt haben, ist es eine Selbstverständlichkeit. Trotz großer Distanzen können wir heute nicht nur direkt miteinander plaudern, wir können uns dabei sogar in die Augen schauen. Zumindest vermittelt über den jeweiligen Screen.
Schwieriger wird es, wenn die vermisste Person sich nicht mehr in einen Videochat einwählen kann: Wenn ein Mensch stirbt, ist das nach wie vor eine unabänderliche Tatsache. Mit jedem Tod werden Angehörige vor die Herausforderung gestellt, etwas annehmen zu müssen, was emotional nicht zu begreifen ist. Eine geliebte Person ist für immer weg. Obschon sie in den Erinnerungen lebendig ist wie nie.
Umso mehr, wenn auch ihre digitale Präsenz fortbesteht, sie weiterhin aus Selfies von den Pinnwänden lächelt, pfiffige oder altkluge Ratschläge aka Lifehacks erteilt oder die Lektüre dieses oder jenes gut recherchierten Hintergrundberichts empfiehlt. Üppige Hinterlassenschaften aus Daten bleiben zurück, die ihrerseits einen Menschen greifbar und lebendig machen können. Aber können sie ihn auch weiterleben lassen? KIs, die auf der Grundlage von Chatprotokollen, getätigter Likes und geposteter Beiträge einen Charakter algorithmisch beleben, sind kein bloßes Zukunftsphantasma mehr. Bietet sich uns nun die nie dagewesene Chance, verpasste Aussprachen zu führen? Oder gar weiter in Kontakt zu bleiben? Wer aber hat ein Anrecht auf das hinterlassene Datenerbe? Die Familie oder die Plattform, in deren Cloud dieser persönliche Schatz verwahrt ist?
In seinem Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig begibt Emre Akal sich auf die Suche nach Formen digitaler Trauerarbeit in all ihren Facetten. Eingebettet in verschiedene Spielmomente spürt er den Chancen und Gefahren dieser technologischen Entwicklungen nach. Damit widmet sich diese szenische Installation dem Erleben einer Zukunft, an deren Schwelle wir uns bereits befinden. (Schauspiel Leipzig)
Emre Akal
GOLDIE
Ein digitales Requiem
Auftragsarbeit für das Schauspiel Leipzig
ad libitum
UA: 13.01.2024 · Schauspiel Leipzig, Disothek · Regie: Emre Akal
GOLDIE
Die Deutsche Bühne
Die Deutsche Bühne
„berührende Inszenierung über das Zusammentreffen von Künstlicher Intelligenz und Erinnerung“
LVZ„unterhaltsame Balance aus melancholisch-kritischem Blick auf ein Zukunfts-Szenario und originellen Brüchen“
MDR Kultur„Das Publikum erlebt eine live produzierte Theaterarbeit mit einem Avatar im Ensemble. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine [...], hält ein Hamster das Gleichgewicht mit der analogen Realität.“
nachtkritik„faszinierende Präsentation, was technisch und rechentechnisch schon möglich ist“