Emre Akal

Über die digitale Wiederauferstehung – GOLDIE. Ein digitales Requiem von Emre Akal

(c) Rolf Arnold

Theaterregisseur und Autor Emre Akal hat für das Schauspiel Leipzig ein Auftragswerk geschrieben. In GOLDIE. Ein digitales Requiem verliert sich eine Frau nach dem plötzlichen Tod ihres Partners in virtuelle Welten. Ein digitaler Avatar des Verstorbenen scheint der einzige Ausweg aus der alles zersetzenden Trauer. Oliver Franke über das virtuelle Weiterleben und das Phänomen “Grief-Tech”.

 

Für SIE ist es ein nicht enden wollender Alptraum. Wieder und wieder wird sie mit dem Verlust ihres Lebensgefährten - dem Autor Murat - konfrontiert. Der Schmerz scheint unüberwindlich, greift tief in ihr Inneres. Der Alltag zieht an ihr vorbei. Stunden werden zu Tagen, Tage zu Wochen. Noch einmal seine Stimme hören. Noch einmal die intimsten Momente ihrer Beziehung erspüren - das ist ihre größte Sehnsucht. Ein digitales Start-up-Unternehmen verspricht Erlösung: Auf der Basis von Chatverläufen, Voicemails, Fotos und Videoaufnahmen wird ein digitaler Avatar von Murat erstellt. Mithilfe einer VR-Brille kann sie ihm virtuell wieder begegnen. Und tatsächlich, vor ihr steht Murat. Etwas verpixelt zwar und im Gesten- und Mimikrepertoire eingeschränkt, und doch unbestreitbar präsent. Zusammen erleben sie ihre tragisch endende Beziehung aufs Neue: erleben gemeinsame Urlaubsmomente am Strand, Momente der tiefsten Vertrautheit und ihr erstes etwas unbeholfenes Date. Je tiefer sie in die virtuellen Welten flüchtet, desto mehr kollidieren Erinnerung, Wunschträume und virtuelle Identitäten. Wer war Murat? Die Grenze zwischen Realität und Simulation werden brüchig. Immer wieder liegen besondere gemeinsame Momente hinter einer Paywall und müssen durch In-App-Käufe freigeschaltet werden. Die emotionale Abhängigkeit von der virtuellen Auferstehung Murats und ihre zunehmende Isolation von der realen Welt, wird auch zu einem finanziellen Problem. Einzig der gemeinsame Hamster GOLDIE scheint den Überblick zu behalten. Er kommentiert auf einer dritten Ebene das Geschehen und ordnet reale Erinnerungen und digitale Datenverarbeitung für das Publikum ein. Was ist wirklich passiert, was ist Ergebnis maschinellen Selbstlernens? Ohne es zu merken, formt sie den Avatar Murat nach ihren Wunschvorstellungen und droht, sich mehr und mehr von dem realen Murat, von ihrer im Realen nicht allzu harmonischen Beziehung zu entfernen. 


»Natürlich erinnern beide sich. Die Frage ist, woran erinnern beide sich?«


Theaterregisseur und Autor Emre Akal begibt sich in seinem neuen Stück GOLDIE. Ein digitales Requiem auf Spurensuche nach einem digitalen Leben nach dem Tod. Was passiert, wenn wir aus den digitalen Fußabdrücken im Internet einen Avatar kreieren, der genauso aussieht, spricht, handelt wie eine verstorbene Person? Ist Trost und Trauerbewältigung möglich, oder wird der Avatar zu einer Projektionsfläche unserer Sehnsüchte - Material, das nach unseren Bedürfnissen geformt wird, und schließlich doch immer wieder an der Nichtgreifbarkeit scheitert. In GOLDIE beschreibt Akal Variationen von Liebe und Verlust und das Spannungsfeld zwischen Individuum (Ich), Beziehung (Wir) und künstlicher Intelligenz. Es ist ein Stück über das menschliche Bewusstsein, das aufzeigt, wie sich emotionale Verbindungen in einer immer stärker digital geprägten Welt verändern. 


»Wo warst du, Mami? Hast du an mich gedacht?« 
VR-Nayeon in "Meeting You"


Der Avatar als Möglichkeit der virtuellen Auferstehung ist bisher die fortgeschrittenste Entwicklung der digitalen Trauerarbeit. Ausgangsbasis für Emre Akal ist ein Ausschnitt aus einer südkoreanischen Dokumentation, in der die Mutter Jang Ji-sung dem Avatar ihrer verstorbenen Tochter Nayeon begegnet. 35 Millionen Menschen schauten bisher auf YouTube die Szene, in der die Mutter zum ersten Mal das virtuelle Abbild ihrer jungen Tochter wiedersieht. Aus Tonaufnahmen wurde Nayeons Stimme nachgebildet, auf Basis von Foto- und Videomaterial konnten die Entwickler:innen eine realitätsnahe Simulation von Nayeon erschaffen. Auch hier stellt sich die Frage, ob die digitale Auferstehung ethische Grenzen überschreitet. Was passiert, wenn die Toten fortleben in einer virtuellen Welt, in der Erinnerung, KI-Datenverarbeitung und unsere Sehnsüchte sich ins System einspeisen. Sicherlich werden Augmented Environments und virtuelle Realitäten in Zukunft mehr und mehr Raum in unserem Alltag einnehmen. Schon jetzt wird VR für die palliativmedizinische Versorgung genutzt. Das Potenzial ist immens - doch braucht es einen öffentlichen Diskurs darüber, wie wir weiter mit den Möglichkeiten virtueller Realitäten in Bezug auf Trauerarbeit und den Sterbeprozess - sogenannter Grief-Tech - umgehen können. Denn wie GOLDIE es bereits treffend beschreibt: 


»So schwer, so schwer. 
Selbst wenn man jemanden findet, der das alles sein könnte,
kann er einem immer noch das Herz zerbrechen. 
Ein Gegenüber kann doch immer nur das spiegeln,
was einer in sich schon herausgefunden hat.«


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