Bei Stückbeginn ist das Stück bereits geschehen, es handelt sich also um die Beschreibung des 'Wiederdenkens', des Sich-Erinnerns in einer Krisensituation. Dabei verändern sich notwendigerweise die einzelnen Figuren, sie bekommen einen verzerrten Charakter. Die Wiedebegegnung mit der Frau wird zur Bedrohung, der Besuch der Eltern zu einer kleinen Komödie der Ahnungslosigkeit. Aber in den Figuren ist die Möglichkeit des Andersseins offen. Die Frau ist wahrscheinlich nicht bedrohlich, eher deprimiert und aufbegehrend - aber sie hat ein Gewehr in der Hand.
"Nichts, es ist kein Unterschied", der letzte Satz des Stückes, führt wieder zur Anfangssituation zurück. Auch der Wunsch nach dem Tod des verlorenen Partners hat - ausgesprochen und in Gedanken nachvollzogen - nichts geändert. Und wenn der Sicherinnernde in der Figur des Lehrers dargestellt ist, so hat sein schatten-Ich, Albert, ihm die Antwort gegeben, dass er damit beginnen muss, den Partner als verloren, als Erinnerung zu betrachten. Zwar wird die Sehnsucht des Lehrers nach seiner nicht sichtbaren Liebe als gestillt gezeigt, aber vermutlich stimmt auch das nicht und Albert und der Lehrer müssen sich mit der Trennung abfinden. In den einzelnen Szenen ist auch die augenblickliche Verfassung des Sicherinnernden miteingeschlossen. Er hat sich in seiner Erinnerung verändert, hat Mühe, sich überhaupt zu sehen, und sich eine Rolle zuzuweisen. Ist er so, wie er sich jeweils sieht oder das Gegenteil?" (Gerhard Roth)
Gerhard Roth
Sehnsucht
Stück in 13 Szenen
5 D, 7 H, 1 Dek
UA: 08.10.1977 · Theater Basel (Steirischer Herbst, Graz) · Regie: Horst Zankl