Die Werners wohnen im Karton. Seit 16 Jahren. Da ist es eng. Frau Werner streng. Sagt an, wann Tag und Nacht. Und was zu tun. Und was zu lassen. Sagt sie dem Gatten - Werner - Wernerlein. Und dass das Marmeladenbrot gegessen wird. An jedem Tag. Marille, bittersüß. Bei Widerspruch gibt’s einen Schlag. Das funktioniert. Nur wenn Herr Werner unruhig wird, wenn ihn der Drang nach Draußen überkommt, dann knöpft Frau Werner ihre Bluse auf. Damit Herr Werner diesen Drang an ihr und im Karton bewältigt. Damit die Ordnung wieder herrschen kann. Doch diese Ordnung kippt, als eines Tages Rosalie am Boden liegt. Die totgeglaubte Tochter bringt den Werners schreckliches Erinnern mit. An das, was war, als Rosalie verschwand. Und vor allem auch an das, was war, als Werner noch das Sagen hatte.
Yade Önders surreale Setzung eines im Karton lebenden Ehepaars und ihrer traumatisierten Tochter erzählt poetisch und bedrückend genau von der routinierten Brutalität eines verwachsenen Miteinanders. Der Karton dient zur hermetischen Abriegelung von der Außenwelt, eine selbstgewählte Strafe, die zuvor am eigenen Kind schier endlos exerziert wurde. Und die auch im Selbstversuch keine Erlösung vom Vergangenen bieten kann. Mit Kartonage hat die junge Autorin ein höchst beeindruckendes Debüt geschrieben, in dem Vergangenheit und Gegenwart sich auf dem Blatt schon feindlich gegenüberstehen. Und das Dazwischen auch nicht mehr vermitteln kann.
Yade Yasemin Önder
Kartonage
3 D, 2 H, Nokia 5110
UA: 23.6.2017 · Autorentheatertage am Deutschen Theater Berlin in einer Produktion des Burgtheaters Wien · Regie: Franz-Xaver Mayr