Zu Grossvater und Halbbruder:
Mein Großvater hat mir die Geschichte vor vielen Jahren erzählt: Zu Anfang des Zweiten Weltkrieges taucht ein Emigrant in seiner Badeanstalt auf. Das siegende Deutschlang liegt nah, und das Dorf und die Familie des Großvaters wollen mit einem "Jud" nichts zu tun haben. Um den Fremden so fremd zu machen, wie er mir aus der Erzählung des Großvaters in Erinnerung ist, lasse ich ihn sagen, er sei kein Jude, sondern Alois, der Halbbruder von Hitler. Vielleicht tischt er eine Lüge auf, um in der nazifremdlichen Stimmung des Dorfes überleben zu können, und vielleicht sagt Alois die Wahrheit - mein Großvater beschließt, den Fremden "durchzufüttern", ihn über den Winter und den Krieg zu bringen. So geraten die beiden in einen privaten Winterkrieg, den sie gegeneinander führen und gemeinsam gegen das Dorf. Denn die Dörfler nehmen vom Großvater und "seinem Jud" deutlich Abstand, und als es sich endlich herumgesprochen hat, daß Alois Hitlers Halbbruder sei, hat sich das Kriegsgeschehen verändert: nun beginnt man, meinen Großvater als Hitlerfreund zu verfolgen.
Die Beziehung des Großvaters zu Alois ist eine Pechbindung - sie hält wie Pech und Schwefel und bringt kein Glück. Beide, so scheint es, sind Verlierer.
Als Gewinner dürfen sich jene fühlen, die sich auf den Fremden nicht eingelassen haben. An einem Frühlingsabend schauen die Leute des Dorfes und die Familie des Großvaters auf das brennende Friedrichshafen. Sie sprechen vom "Blick in das Historische". Sie merken nicht, dass der ferne Krieg auch im eigenen Dorf und in der eigenen Familie stattgefunden hat. (Thomas Hürlimann)
Thomas Hürlimann
Grossvater und Halbbruder
Stück in 15 Szenen
2 D, 9 H, St, 1 Dek
UA: 15.10.1981 · Schauspielhaus Zürich · Regie: Werner Düggelin