Wibke Charlotte Gneuß

Gittersee
Stoffrechte zur Dramatisierung
UA: 02.11.2024 · Berliner Ensemble · Regie: Leonie Rebentisch
1976, im Dresdner Vorort Gittersee: Karin ist 16, hütet ihre kleine Schwester und hilft der renitenten Großmutter im Haushalt, die ihrer Zeit als Blitzmädel hinterhertrauert. Karins Vater verzweifelt an der Reparatur seines Škodas wie an der des Familienlebens, und ihre Mutter würde am liebsten ein anderes Leben führen. Aufgehoben fühlt sich Karin bei ihrer Freundin Marie, dem einzigen Mädchen in der Klasse, das später nicht etwas machen, sondern etwas werden will: die erste Frau auf dem Mond. Und Karin ist verliebt: in ihren Freund Paul, der gerne Künstler wäre, aber im Schacht bei der Wismut arbeitet. Als Paul zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen eines Nachts zwei Uniformierte vor der Tür, und Karins Welt gerät aus den Fugen.

"Die 1992 geborene Autorin zeigt mit wenigen Strichen tiefe Verflechtungen, gravierende Momente, auseinanderdriftende Miniaturen. Auf dem Spiel stehen die erste Liebe, große Fürsorge, Unschuld, Verrat und Treue. Gneuß, die ab sofort zu den Besten der jüngsten Generation deutschsprachiger Autor*innenschaft zu rechnen ist, beweist, die Geschichte lehrt, aber ihre Schüler belehren nicht. Das schwierige Feld aus Individualgeschichte, Staatsdoktrin und Freiheitswunsch erzählt Gneuß aus überraschender Perspektive. Die 16-jährige Karin durchlebt, was es bedeutet, innerhalb eines undurchsichtigen, bedrohlichen Systems seine Rolle zu finden. Gittersee ist dabei auch ein Ensemble-Roman und weist als solcher über das vermeintlich kleine graue Land hinaus. Die Summe der Prädikate dieses Debüts – Milieu-Instinkt, Tonfall, Verdichtung und der poetische Moment – ist Unruhe als Energie. Die Leben, die wir in Gittersee als Lesende streifen, lassen uns nicht mehr los. " (Aus der Begründung der Jury der Jürgen Ponto-Stiftung, die den Literaturpreis 2023 an Charlotte Gneuß an Charlotte Gneuß vergibt)

Kritiken

Gittersee

Süddeutsche Zeitung

Die Aufführung zeichnte die Verpanzerung der verhärteten Erwachsenen und die offene, ungeschützte, auch verträumte Lebensgier von Karin und Marie in einer schönen, klaren, nie plakativen Spielweise.

RBB24

Der Abend stellt Dialoge und Handlungssplitter luftig nebeneinander, streift sowohl die Coming-of-Age-Story, die Liebesgeschichte, den Kriminalfall als auch das historische DDR-Panorama - mit Spannung und Psychologie, ohne dem Publikuzm das Denken abzunehmen.

Radio3

Charlotte Gneuß hat einen atmosphärisch dichten Roman über das schale Lebensgefühl der DDR geschrieben, der kein Wort zu viel erzählt. Und genauso handhabt es die Bühnenfassung, die die junge Regisseurin Leonie Rebentisch fürs Berliner Ensemble verfasst und inszeniert hat.