Der Schrank ist ihr Haus, ihr Versorger, ihr Leben. Aus ihm essen sie, in ihm schlafen sie, auf ihm träumen sie. Eigentlich sind sie ganz zufrieden, der Mann und die Frau, auch wenn es früher anders war. Ganz anders wird es aber mit dem jungen Mann, der scheinbar belanglose Fragen stellend aus dem Schrank heraus vorbeispaziert. "Seitdem der da ist, ist alles anders" findet der Mann. "Nimm's nicht so schwer", beruhigt ihn die Frau. "Was heißt nicht so schwer - Wir leben Ohne es zu wissen Und sterben Ohne es zu wollen" schimpft der Mann. Und auf einmal können sie die Schranktür nicht mehr öffnen. Und die vom jungen Mann aufgehängten Zettel können sie nicht lesen. "Das ist unsere Chance Wir sind frei" freut sich der Mann und geht. "Es ist klüger zu bleiben" entgegnet die Frau. Und für eine kurze Zeit ist der Schrank das Haus des jungen Mannes, ist er der Herrscher über Zeit und Beständigkeit. Und dann ist er weg. Und aus dem Schrank klopft der Mann, der seine Frau sucht, und in seiner Hand hält er einen Apfel. Und als die Frau den Schrank öffnet, darf auch sie von dem Apfel der Erkenntnis naschen. "Ich werde bald gehen", sagt sie. "Hast du keine Angst", fragt der Mann. "Wovor?", wundert sie sich. Und dann versuchen sie nicht mehr unglücklich zu sein und an etwas Fröhliches zu denken. Aber ihnen fällt nichts ein. "Ich wußte es" sagt der Mann. "Ja", sagt die Frau.
Getragen von der Gewissheit der Beständigkeit plätschert das Leben von Mann und Frau träge vor sich hin. Allein der Habicht, in der Traumdeutung Symbol für die Befürchtung kommender Verluste, kündigt mit seinem hartnäckigen Kreisen die Veränderung an. Der Verlust des Schrankes, als Zeichen für das Verschwinden der Identität, führt jedoch zu keinem Aufbruch. Die Erkenntnis der Erfahrung "Riecht nach nichts". Damit ist der Stillstand besiegelt.
Alexander Müller-Elmau
Die Verschwundenen
1 D, 2 H
UA: 27.03.2004 · Staatstheater Stuttgart · Regie: Alexander Müller-Elmau