Wie kommt eine Baronin zu einer Sau? Ganz einfach: Sie verfährt sich, fragt an einem Bauernhof nach dem Weg und findet im Schweinestall ein halb vertiertes Wesen, ein Mädchen, eine Kaspar-Hauserin, die sie sogleich zu retten und zu ihrer Zofe zu machen beschließt...
Die Sozialisierung des jungen Mädchens gestaltet sich schwierig, doch die Baronin zeigt sich geduldig. In der Mitte des Stücks fällt das entscheidende Wort. Die Sau sagt zum ersten Mal: 'Ich'. Und mit diesem Wort beginnt sie der Baronin ebenbürtig zu werden. Aus dem Tier wird ein Mensch...
Die Adelige bringt dem "Untermensch" die wichtigsten Grundlagen jeder höheren Zivilisation bei: Tisch decken und Besucher anmelden. Messer, Gabel und das Tablett für die Visitenkarten als ein über jede Sau erhabenes Standessymbol. Je höher Emilie in die Kultur aufsteigt, desto tiefer sinkt die Baronin hinab. Sie entlarvt die edle Erziehung als neue Unterwerfung und sich selbst als dressierten Schmarotzer, abhängig von leeren Ritualen und einem nie auftretenden Baron, dem wahren Schwein in dieser hohlen Dekadenz. Was auf den ersten Blick wie ein Stück über die erzwungene Wandlung eines primitiven zu einem dienenden Menschen anmutet, das entpuppt sich auf den zweiten als eines über die Metamorphose einer bornierten, angeheirateten Adligen zu einem denkenden und fühlenden Menschen...
Michael Mackenzie
Die Baronin und die Sau
(The Baroness and the Pig)
Deutsch von Andreas Jandl / Hedda Weber
2 D, Verwandlungsdek
DSE: 14.05.2004 · Wallgraben Theater Freiburg · Regie: Cihan Inan