Jakob Nolte

Endlich ist er da, der erste Niedersachsen Noir

Endlich ist er da, der erste Niedersachsen Noir(c) Tobias Willmann

DIE FRAU MIT DEN VIER ARMEN von Jakob Nolte ist alles auf einmal und noch viel mehr: Krimi, Gesellschaftsporträt, Kulturkritik. Es gibt ermordete „deutsche, traurige Jungs“, eine eigenbrötlerische Kommissarin, Dauerschleifen von Pop Songs Messaging Apps, Rennautos, die Oper, die Kunst, die Ihme, den Maschsee, Verklumpungen, Politik, Tattoos, Drogen, Burgerläden, Einsamkeit, schräge Witze, schrullige Glücksmomente und pure Freude bei der Lektüre. Eine Liebeserklärung von Friederike Emmerling.


Wer Hannover bislang nur von der Durchreise kennt, wird nach der Lektüre von DIE FRAU MIT DEN VIER ARMEN unbedingt beim nächsten Hannoverhalt aussteigen wollen, um die minimalistischste aller Hannoverarchitektur-Beschreibungen mit der Wirklichkeit abgleichen zu können:



»Die Polizeidirektion Hannover in der Waterloostraße 9 war zum Großteil aus Steinen zusammengesetzt. Diese waren zu einem Kasten geformt.In den Kasten waren Löcher eingelassen, sogenannte Fenster, und weil sie aus einem durchsichtigen Material aus Quarzsand, Kalk und Soda bestanden, konnte man durch sie durchgucken.«


In ebendieser Polizeidirektion arbeitet die mit Depressionen und Verbrechern kämpfende Kriminalkommissarin Rita Aitzinger. Ständig findet sie in ihrer Freizeit tote junge Männer. Berufsbedingt muss sie sich dann gleich im Anschluss auf die Suche nach einer Mörderin machen, die es offenbar auf »deutsche, traurige Jungs« abgesehen hat. Der zigarettengerade Handlungsstrang dieses ersten Niedersachsen Noir zum Niederknien offenbart neben einem 1a-bizarren Krimihandlungsstrang Sätze von sprachlich bezwingender Eindeutigkeit, die das Herz vor Freude kurz hüpfen lassen.



»Die Arbeit der Polizei war es, Normalität durch ein Sieb laufen zu lassen und Verdacht zu schöpfen.«


Verhöre, Aussagen, Alibis, Pressekonferenzen und weiteres Zubehör der tatortbekannten Polizeiarbeit dienen Jakob Nolte als optimale Voraussetzung, um zahllose Einblicke in die komplexen Abgründe der Hannoveraner Seelen zu ermöglichen. Natürlich begegnen seine verschroben liebenswerten, manchmal auch etwas ruppigen (“Halt´s Maul”), MoKos während der Aufklärung höchst skurrilen Menschen, die es nach guter alter Nolte-Manier nicht dabei belassen können, einfach zu sein (wie sollte das auch gehen?), sondern sich ein ums andere Mal mit größter Selbstverständlichkeit in aufregenden bis aufwühlenden Exkursen zu Politik, Kunst und Gesellschaft verlieren. Davor ist auch die Erzählstimme zum großen Glück der Lesenden nicht gefeit:



»Es war kein Zufall, dass Opernhäuser und Theater so häufig Schauplatz politischer Anschläge wurden. Nirgends zeigten sich die Probleme einer Gesellschaft, die Gemeinschaft aus Herkunft produzierte, deutlicher als hier.«


Wie so oft bei Nolte geht es neben allem anderen um die zärtliche Betrachtung der Traurigen. Wer wenn nicht sie wäre anfälliger, sich dem manipulativen Versprechen von Glück mit jeder Faser ihres Körpers hinzugeben. Und weil die Traurigkeit vor niemandem Halt macht, sind wir am Ende irgendwie auch alle gemeint.
DIE FRAU MIT DEN VIER ARMEN ist vordergründig ein Krimi, hintergründig ein unwiderstehlicher Lockruf, all diesen Stimmen in die Aufregung ihrer Gehirnwindungen zu folgen, sich in ihre opulenten Abschweifungen voll tolldreister Klugheit zu verlieren, und währenddessen inständig zu hoffen, dass dieser elektrisierende Krimi-Trip niemals enden möge. Dieser Wunsch erfüllt sich leider nicht. Doch bevor sich deshalb die Traurigkeit über uns legt, hilft gnadenlos („Halt´s Maul!“) nur eins: Einfach immer wieder von vorne anfangen.


DIE FRAU MIT DEN VIER ARMEN ist im Mai 2024 bei Suhrkamp Nova erschienen. Die Bühnenrechte liegen bei S. Fischer Theater & Medien


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