Jakob Nolte

Noltes Stürmen

Wie aus einer stürmischen Übersetzung fast eine neue Sprache entsteht und warum wir uns grundsätzlich einfach viel mehr trauen sollten, davon erzählt Friederike Emmerling am Beispiel der Sturm-Übersetzung von Jakob Nolte.

 


Kurz nachdem Jakob Nolte 2020 die erste Fassung seiner Sturm-Übersetzung für das Deutsche Theater in Berlin abgegeben hatte, erhielt ich einen Anruf des Dramaturgen David Heiligers, der vorsichtig fragte, ob ich schon gelesen habe. Die Übersetzung wäre sehr eigen, unerwartet, aufregend. Aber auch ein Wagnis. Es würde ihn interessieren, was ich dazu sagte. Neugierig legte ich den Hörer auf und öffnete die Datei. Auf den ersten Seiten verstand ich nahezu gar nichts. Der Text folgt einer Nichtgrammatik, die jeden Satz zu einem Rätsel werden lässt. Die ohnehin schon herausfordernde Sprache Shakespeares schien durch die Übersetzung noch verschachtelter zu werden. Ich war mir nicht sicher, wozu ich bei diesem Sturm geladen war. Das Verstehenwollen strengte mich an. Mein Telefon klingelte, dankbar griff ich zum Hörer. Plötzlich geschah etwas Magisches: Vom Telefonieren abgelenkt schweifte mein Blick über den Bildschirm, auf einmal begann ich die Sätze zu verstehen. Ihr Sinn ergab sich nebenbei, stellte sich her, umso weniger ich mich darauf fokussierte. Wie ein Blitz kam die Erkenntnis: Im Zweifel loslassen. Ich konnte mich durch diesen Text treiben lassen wie die Schiffsbrüchigen zur Insel. Erst jetzt war ich in der Lage, seine bizarre Schönheit zu erkennen. Was hatte Jakob Nolte gemacht? Wortwörtlich (im wahrsten Sinne des Wortes, Kommas und Apostrophe mit eingeschlossen) hatte er das Original ins Deutsche übertragen. Dadurch entstand eine Kunstsprache. Weniger pathetisch und voluminös als das Original. Eher pur, fast kindlich ausgelassen. Mit Sätzen, die viele Schleifen drehen, und dadurch einzelnen Worten eine ganz neue Bedeutung verleihen, sie regelrecht leuchten lassen. Jakob Nolte hat ein Eiland aus kunstvollem Dialekt geformt, eine Insel der grammatikalischen Verweigerung. Er hat die Figuren sprachlich vom Rest der Welt befreit und gleichzeitig miteinander verortet. Dafür hat er nichts Neues gedichtet, sondern das Vorhandene akribisch genutzt. Entstanden ist eine hyper-true-to-original Übersetzung, eine Konzeptübersetzung mit Schönheitsflecken (Wenn es all das überhaupt gibt? Aber wer kann das schon sagen?). Bei aller Euphorie stellte sich mir natürlich eine Frage: Gingen gerade die Geister mit mir durch oder würden auch andere diese Übersetzung so wahrnehmen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Lass es uns wagen, please!!!, schrieb ich David Heiligers zurück. Unbedingt, war seine umgehende Antwort. Das Theater ging mit. Mein Herz klopfte wild vor Aufregung. Das war vor zwei Jahren. Im Juli 2022 fand die Premiere im koproduzierenden Bregenz statt, seit September wird die Inszenierung am Deutschen Theater Berlin gezeigt. Ein Glück, denn diese Inszenierung ist wirklich ein Spektakel. Das, was Jan Bosse und das grandiose Team des Deutschen Theaters auf die Bühne gebracht haben, ist berauschend und betörend, heiter und verstörend – nicht weniger als ein ausgelassenes sinnliches Fest des Theaters mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Mittendrin und unüberhörbar diese aus dem Sturm selbst geborene Shakespeare-Nolte-Sprache als zauberhafte Verneigung vor dem, was Sprache ist und Sprache will und Sprache kann.
Seitdem wächst sie, die Sehnsucht nach neuen Wagnissen. Dieser Sturm ist riskant, aber gerade das macht ihn so lebendig. Was hindert uns daran, im Zusammenspiel von Dramatik und Theater noch viel mehr zu riskieren? Im schlimmsten Fall scheitert eine Inszenierung. Im besten Fall aber entsteht ein Sturm, der fragwürdige Gewissheiten durcheinanderwirbelt und neu sortiert, der unsere Hirne leuchten und unsere Herzen brennen lässt, und schlussendlich vielleicht auch den ein oder anderen „unwissenden Qualm“ zu vertreiben weiß, wie es in Noltes Übersetzung so schön stürmisch geschrieben steht:

 

Und als der Morgen stiehlt von der Nacht,
Schmelzend die Dunkelheit, so ihre sich erhebenden Sinne
Beginnen zu jagen den unwissenden Qualm der verhüllt
Ihre klarere Vernunft.

 


„Hat man sich eingehört, entsteht aus dieser Nähe zum Original, dessen schwierige Sprache uns ja über die Jahrhunderte ebenfalls fremd geworden ist, (…) eine Kunstsprache, eine Geheim- oder Zaubersprache, die bestens zum magischen Inhalt des Stücks passt.“ (rbb Kultur)

 


„(D)ie grammatikalisch wie semantisch recht abenteuerlustige Übersetzung schmerzt nicht. Viel eher verneigt sie sich vor dem sprachlichen Wagemut Shakespeares.“ (Standard)

 


„Der Sturm stammt aus einer versunkenen Welt mit eigenen Gesetzen, da passt diese sperrige Kunstsprache gut.“ (tip, Berlin)

 


„Dieser Sturm ist ironisch verklärt, genüsslich gespielt, sündhaft vergnüglich. Oder, mit Jakob Nolte ausgedrückt: solches Zeug als Träume sind gemacht von.“ (nachtkritik)

 


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