Im März und April feiern wir gleich zwei bedeutende Jubiläen: Pier Paolo Pasolinis 100. und Thornton Wilders 125. Geburtstag. Wilder und Pasolini bewegten sich spielerisch in verschiedensten Kunstgattungen und prägten die Kulturgeschichte des 20. Jahrhundert wesentlich mit. Ihre Gesamtwerke umfassen Romane, Theaterstücke, Lyrik und Spielfilme. Oliver Franke widmet sich in seinem Journalbeitrag diesen beiden Ausnahmekünstlern. Ein kurzer Blick auf ein beeindruckendes Œuvre.
Thornton Wilder und Pier Paolo Pasolini haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam: Der eine 1922 im italienisches Santo Stefano geboren, der andere 1897 als Sohn einer Calvinisten-Familie im US-amerikanischen Madison, Wisconsin. Während Wilders verborgene Homosexualität bis heute Anlass zu vielen Spekulationen liefert und ein möglicherweise schwuler Subtext in seinen Romanen und Theaterstücken, wenn überhaupt, nur erahnt werden kann, setzte sich Pasolini öffentlich und offensiv mit seiner Sexualität auseinander. Seine Spielfilme SALÒ - DIE 120 TAGE VON SODOM und TEOREMA gelten als Meilensteine des queeren Avantgarde-Kinos. Diskretion trifft auf Provokation. Beide Autoren verbindet allerdings das stete Überschreiten von Genregrenzen und Konventionen. Wir laden dazu ein, das umfassende Œuvre dieser beiden Ausnahmekünstler anlässlich ihrer runden Geburtstage (neu-) zu entdecken.
Zum 100. Geburtstag: Pier Paolo Pasolini - der queere Rebell
Pier Paolo Pasolini (* 05.03.1922, † 02.11.1975) schrieb „Kein Künstler ist frei, in keinem Land. Er ist lebendiger Protest.“ Der italienische Regisseur, Autor und Maler verkörperte selbst den Protest zeit seines Lebens. Immer wieder wies er auf die soziopolitischen Missstände des Subproletariats hin. Pasolini verfasste Werke, die einerseits von Intimität, Sinnlichkeit und Subtilität, und andererseits von einer brachialen Grausamkeit und Unbarmherzigkeit geprägt sind. Er kämpfte in seinen letzten Jahren gegen Konformismus und die Verdrängungskultur im postfaschistischen Italien. Sein Leben, seine Person, sein Werk waren ein Skándalon. Pasolinis apokalyptische Kritik an der Zerstörung und an der Selbstzerstörung der Menschen und ihrer Erde brachte buchstäblich ganz Italien gegen ihn auf und klingt auch 47 Jahre nach seinem Tod in seinen Werken nach. Umberto Eco charakterisiert das Enfant terrible Pasolini in seinem Nachruf „Warum wir nicht immer einig waren” beispiellos präzise als Provokateur, der seine „Andersartigkeit” bewusst ausstellte, um sich den piefigen Konventionen der Nachkriegsjahre entgegenzustellen:
„Er behauptete: Die Gesellschaft lyncht mich, weil ich anders bin, und gewiß war sein erster Antrieb zur Rebellion aus dem Gefühl erwachsen, gesellschaftlich abgedrängt und ausgestoßen zu sein wegen jenes sexuellen Andersseins, das er mit verzweifelter Ehrlichkeit herausschrie [...]. [Ihm war] aus der primären Erfahrung des sexuellen Andersseins der weitere Drang erwachsen [...], sich eine Situation extremer Andersartigkeit zu schaffen. Mit einem wütenden Spürsinn für unpopuläre Positionen.”
(Eco, Nachruf erschienen am 09. November 1975 in L’Espresso. Übersetzt von Burkhart Kroeber)
Dreck und Anmut, Provokation und Anbetung - Pier Paolo Pasolinis Theaterstücke, Gedichte und Filme klagen an, erzählen von (sexuellen) Befreiungsschlägen, von allzu realen Höllenvisionen, von Konformismus und Klerikalfaschismus. Sie lassen uns bis heute nicht los.
S. Fischer Theater & Medien ist nun Ansprechpartner für alle dramatischen Rechte an Pier Paolo Pasolinis Werken im deutschsprachigen Raum. Neben den schon seit Jahrzehnten von S. Fischer vertretenen Theaterstücken stehen z. B. auch sein Erstlingsroman „Ragazzi di Vita” von 1955 und sein autobiografisches Langgedicht „Il Poeta delle Ceneri - Who is me? Dichter der Asche”, das er 1966 während seines New York Aufenthaltes schrieb, zur freien Dramatisierung zur Verfügung.
Zum 125. Geburtstag: Thornton Wilder - Schlüsselfigur der amerikanischen Literatur
Zärtlich, betörend, voller Gefühl und Witz - die bemerkenswerten Theaterstücke von Thornton Wilder (*17.04.1897, † 07.12.1975) nehmen einen einzigartigen Platz in der amerikanischen Kultur ein. Sein berühmtestes Stück, UNSERE KLEINE STADT, hat als Ausdruck des Geistes und des Pathos des amerikanischen Kleinstadtlebens Kultstatus erlangt. Es wurde für den Film und die Opernbühne adaptiert und wird noch heute nachgespielt. 1956 nannte die „Paris Review” Thornton Wilder „einen der härtesten und kompliziertesten Köpfe im gegenwärtigen Amerika". Das war, nachdem Wilder bereits seine drei Pulitzer-Preise für den Roman DIE BRÜCKE VON SAN LUIS REY (1927) und die Theaterstücke UNSERE KLEINE STADT (1938) und WIR SIND NOCH EINMAL DAVONGEKOMMEN (1942) gewonnen hatte. Sein Ruhm muss für viele seiner Kolleg:innen eine Überraschung gewesen sein... Vom Sohn einer strenggläubigen Calvinisten-Familie zum Aushängeschild der amerikanischen Literatur war es ein langer Weg:
Wilder wurde am 17. April 1897 in Madison, Wisconsin, geboren. Er verbrachte einen Teil seiner Kindheit in China, bevor seine Familie nach Kalifornien zog, wo er 1915 die Berkeley High School abschloss. 1920 graduierte Wilder von der Yale Universität.
Wilder umgab sich mit einer Vielzahl queerer Persönlichkeiten, wie z. B. Gertrude Stein, die ihn auch literarisch prägte. Seine Theaterstücke, Romane und Essays gehören zu den eindringlichsten Reflexionen über unsere (verbotenen) Hoffnungen, Kämpfe und Träume, die die Weltliteratur zu bieten hat. Seine Hauptwerke sind Meilensteine der amerikanischen Literatur. Wilders Einfluss auf die amerikanische Dramatik kann nicht überschätzt werden, wie die Theaterautorin Paula Vogel hervorhebt:
„For an American dramatist, all roads lead back to Thornton WIlder. [...] I am astonished each time I read him, at the force of his works, at the subtle blend of humor and pathos, and his masterful balancing act of abstraction and empathy. I remember anew how much I owe to him [...].”
(Vogel, Foreword. In: The Skin of our Teeth)
Der 125. Geburtstag von Thornton Wilder wird in diesem Jahr mit fast 150 Inszenierungen seiner Stücke weltweit gefeiert - darunter eine neue Inszenierung von WIR SIND NOCH EINMAL DAVONGEKOMMEN am Broadway und eine von Kirk Lynn (Rude Mechanicals) vollendete Erstaufführung von Wilders Stückfragment THE EMPORIUM am Alley Theater in Houston. Unter www.wilder125.com finden sich weitere Informationen über den Jahrhundert-Schriftsteller Thornton Wilder. Sein lustvolles Experimentieren mit der dramatischen Form, sein permanentes Ringen mit den großen gesellschaftspolitischen Umwälzungen seiner Zeit und die Frage, was es bedeutet Mensch zu sein, stehen im Fokus seines literarischen Werks und wirken heute aktueller denn je. Es ist an der Zeit, seine Stücke neu zu entdecken.
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