Henry Hackamore hat offensichtlich nicht mehr lange zu leben. Bleich und ausgezehrt vegetiert er auf einer Art Zahnarztstuhl in einem kahlen Zimmer irgendwo in Südamerika. Er ist fast nackt, trägt nur weiße Boxershorts, sein Haar schulterlang, weiß, der Bart lang und weiß, die Finger- und Zehennägel korkenzieherförmig. Hackamore hat etwas von einem verrückten Propheten, verunsichert von Paranoia und besessen von der Angst vor Viren. Hackamores Verstand gleicht einem zerschmetterten Prisma, dessen einzelne Kristalle seine Vergangenheit in einem wirren Strom von Wahnvorstellungen und Erinnerungen brechen. Er selbst sieht sich nicht als despotischen Magnaten, sondern als Opfer - betrogen von den räuberischen Lakaien und belastet mit einer riesigen Organisation, die nach seinem Tod beschlagnahmt werden soll.
Hackamore, immer noch aus Fleisch und Blut, hat zwei seiner früheren Gespielinnen aus den USA herbeizitiert, um mit ihnen die letzte seiner Orgien zu feiern. Diese Flittchen, gekleidet im Stil der 40er Jahre, jener Zeit, in der Hackamore den Höhepunkt seiner Macht und Potenz erlebte, Luna und Miami, tanzen für ihn einen Striptease, der für Hackamore im klamaukartigen Desaster endet. Verführt enthält ein großes Stück Tragödie. Auch wenn es vordergründig mit der Lebensgeschichte des Howard Hughes spielt, so erzählt es im Grunde von der Vereinsamung des Menschen, der gefangen in einem unwirtlichen Raum und völlig abgeschieden von der Außenwelt, Wirklichkeit und Irrealität nicht mehr zu unterscheiden vermag.
Sam Shepard
Verführt
Stück in 2 Akten
(Seduced)
(Seduced)
Deutsch von Johannes Schaller
2 D, 2 H, 1 Dek
UA: 24.01.1979 · American Place Theater, New York · Regie: Jack Gelber
DSE: 14.11.1991 · Theater 99, Aachen · Regie: Johannes Schaller
DSE: 14.11.1991 · Theater 99, Aachen · Regie: Johannes Schaller