Als Salome, von der Begierde ihres Stiefvaters Herodes angewidert, auf die Terrasse des Palastes tritt, aus der Zisterne die Stimme des gefangenen Jochanaan vernimmt und sich den Fremden vorführen lässt, stoßen zwei Weltzeitalter aufeinander: das in Korruption und hemmungsloser Sinnenlust untergehende heidnische und das heraufkommende christliche, dessen Vorbote und Verkünder der asketisch strenge Jochanaan ist. In seine flammende Anklage der "Tochter Babylons" und ihres verderbten Geschlechts, seine Prophezeiung des Strafgerichts und seine Aufforderung, dem "Menschensohn" nachzufolgen, tönt Salomes leidenschaftlicher Preis seiner männlichen Schönheit. Als die Prinzessin einen Kuss von ihm fordert, schleudert Jochanaan voller Abscheu seinen Fluch gegen sie.
Später tanzt sie, entgegen ihrer anfänglichen Weigerung, vor Herodes den Tanz der sieben Schleier, nimmt den Lüsternen, der geschworen hat, ihr dafür jeden Wunsch zu erfüllen, beim Wort und verlangt, dass ihr auf einer Silberschüssel der Kopf des Propheten gebracht werde. Von Furcht ergriffen, bietet ihr Herodes, der Jochanaan schonen will, seine erlesensten Kostbarkeiten an, doch Salome beharrt auf ihrer Forderung. In rasender Verzückung küsst sie das abgeschlagene Haupt des Propheten, und wie dieser Kuss sind ihre letzten Worte an Jochanaan Ausdruck der rauschhaften Einheit von Eros und Tod, Lust und Grausamkeit. Entsetzt und im dumpfen Bewusstsein, dass eine Gotteslästerung geschehen ist, befiehlt Herodes der Wache, Salome zu töten. (Kindlers Neues Literatur Lexikon)
Oscar Wilde
Salome
(Salome)
Deutsch von Peter Torberg
2 D, 11 H, St
UA: 11.02.1896 · Théâtre de L'Œuvre, Paris