Kaum eine andere Frau hat Dichter und Künstler über die Jahrhunderte so berührt und zu immer neuen Auslegungen inspiriert wie Medea. Sie ist eine der großen Frauengestalten der Dramenliteratur, deren Erfolg untrennbar mit ihren Interpretinnen verbunden ist – Anna Magnani, Diane Lane, Isabelle Huppert oder Maria Callas in Pier Paolo Pasolinis epochaler Verfilmung. Am Centraltheater übernimmt jetzt Sophie Rois die Rolle der Zauberin in einer Neubearbeitung des antiken Mythos.
Seit Euripides gilt Medea als Inbegriff für alles Fremde, Unbegreifliche, Grausame. Der ungesühnte Mord an ihren Kindern dient als Synonym für ihre barbarische Herkunft und die Bedrohung, die aus anderen Zivilisationen für die eigene erwächst. Erst im letzten Jahrhundert wurde versucht,Medea zu entschulden, sie mehr als Opfer denn als Täterin zu sehen: als gescheiterte Emigrantin in einer ihr feindlich gegenüberstehenden Gesellschaft.
Eine Sicht, die auch Sophie Rois im Gespräch mit Alexander Kluge vertritt: „Medea ist die Tragödie eines Menschen, der als ganzer Mensch in Ruhm und Ehre leben will. Dieser Mensch fordert sein Menschenrecht ein. Darum begeht er einen kalt kalkulierten politischen Akt. Medea ist ein strategischer Politiker. Deshalb ist Medeas Mord an den Kindern keine emotionale Tat. Sie hat nur kein Gebiet mehr, auf dem sie sich bewegen kann. Sie ist raus aus ihrer politischen Wirkung, sie ist keine Königin mehr. Sie ist nur noch die Frau von diesem Mann, Jason, was anderes ist sie nicht mehr. Dagegen handelt sie, indem sie der Dynastie, die geplant wird, die Nachkommen abschneidet.“
Michael Billenkamp
Euripides, Clemens Schönborn
Medea
2 D, 3 H, Chor
UA: 16.01.2010 · Centraltheater Leipzig · Regie: Clemens Schönborn