Plötzlich ist alles ganz anders als letzten Winter; keiner steht mehr unvermittelt unterm Fenster und fängt mitteleuropäischer Zeit an zu pfeifen. Keiner kommt mehr rein, so wie immer, in großen Schuhen und mit heimlichen Küsse an frühen Abenden, wenn das Licht langsam blau wird.
Was bleibt von diesem Winter ist der Geruch von Kaffee. Und die Erinnerung an Geschichten von fremden Wörtern, an Leuchtfeuer und Farben, an internationale Flaggensignale, Wasservorräte und Längenmaße ferner Länder. Was bleibt ist der Zollstock und das Maß der Dinge in Zentimetern: der Abstand der Schuhe, wenn sie ausgezogen sind, die Länge der Ärmel der Winterjacke, der Abstand des Kessels von der Platte.
Was bleibt ist der Blick aus dem Fenster, auch wenn niemand hochschaut, MEZ, eine elektrische Leitung über der Straße, eine Lampe über dem Mittelstreifen, kleine Balkone gegenüber, Vorhänge. Und eine kleine metallene Pfeife in der Tasche, wenn man nach ihr kramt.
Eine angedeutete, eine abgebrochene Geschichte. Die Erinnerung setzt den Atem frei, mit dem die Worte in diesem "Monolog für eine Frau" um jenen letzten Winter kreisen. Die Sprache kristallisiert Momentaufnahmen einer gemeinsamen Vergangenheit heraus, verkleinert, vergrößert, rückt die Bilder, die sie im Gedächtnis bewahren wollte, in immer neue Entfernungen und Versuchsanordnungen.
Roland Schimmelpfennig
M.E.Z.
Monolog für eine Frau
1 D
UA: 05.05.2000 · Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin · Regie: Gian Manuel Rau
Übersetzt in: French, Italian, Slovakian