Es ist Mittsommernacht, Zeit der Grenzaufhebung, Tag und Nacht sind nicht mehr voneinander getrennt, sondern fließen in diffusem Halbhell-Halbdunkel zusammen; ein Traum, ein Spiel, eine Ausnahmesituation.
Eine Tag/Nacht, um endlich wahr zu machen und die Flucht zu ergreifen: Christin stützt ihre Pläne auf physikalische Studien, sie möchte mit Jean die universale Flucht antreten. Ein Nacht/Tag, um wieder einmal zurückzuschrecken vor dem Möglichen: Jean verwickelt Christin in ein Spiel, das nicht aus einer konkreten Handlung, sondern in ausformulierter Vorstellung, aus wuchernder Phantasie besteht.
Sprechen und Zuhören mit Haut und Haaren. Aus dem Brunnen steigt etwas Fremdes, etwas Drittes: ein hybrides Wesen, das Kondensat ihrer Phantasie.
Der Troll trägt den Namen Julie, den der begehrenswerten, unerreichbaren Tochter des Grafen, dem Christin und Jean zu Diensten stehen; die gestaltgewordene Imagination reißt nun die Grenzen nieder, ist ganz Körper. Christin entzieht sich dem Spiel, indem sie in die Höhe springt, sich für kurze Zeit der Gravitation enthebt und dadurch die Erde unter sich vorbeirasen lässt. Die Hinterbliebenen verbeißen sich ineinander bis zur Entfremdung. Aus der Hingabe, dem entlockten Eingeständnis einer nicht-lebbaren Liebe, wird der Entzug, wird die grundlegende Hinterfragung von Liebe und Liebesfähigkeit. Beiläufig schneidet sich der Troll die Kehle durch; mit dem ersten Sonnenstrahl verwischt er alle Spuren und verschwindet. An seiner Stelle liegt nun Christin, unbemerkt von Jean; sie bleibt zurück wie der Kaffeesatz, wie halbausgetrunkene Gläser nach einem rauschenden Fest, während der Troll, die Projektion, souverän im aufgehenden Morgenlicht erlischt.
Wolfgang Maria Bauer
Julie, Traum und Rausch
Nach Motiven August Strindbergs unter Verwendung eines Textes von Bernard Marie Koltès
2 D, 1 H, 1 Dek
UA: 16.11.1996 · Café-Teatret, Kopenhagen · Regie: Alexa Thea