"Denke ich an mein Stück, so sehe ich einen verlassenen Badeort, am Meer gelegen, im letzten Licht des Tages. Auf den Klippen steht ein alter Mann mit hagerem Gesicht: Pinon. Seit 18 Jahren lebt er allein dort oben, auf den Klippen, in einem Haus, dass er zu einem Gefängnis umgebaut hat, er spricht nicht, aber er hilft, wenn jemand zu den Klippen kommt, der wirklich springen will. Und ich höre die leise Musik im "Tanzpalast", sehe dort Gratia, sehe sie seit 18 Jahren die wenigen Gäste bedienen, auf ihre Weise bedienen, sehe aber auch ihre hässlichen Narben im Gesicht. Und ich rieche die vermoderten Tapeten in der "Absteige", rieche die ungewaschenen Kleider des Portiers, rieche seinen faulen Atem. Und ich höre Sebastian, höre ihn dort auf der Bank an der Uferpromenade in die Dunkelheit sprechen, höre seinen Wunsch nach einer Geschichte. Und ich sehe Daniel, sehe wie er dafür bezahlen will, dass ihm jemand zugehört hat, vielleicht seit 18 Jahren das erste Mal zugehört hat. Und ich sehe auch Vera durch die Nacht laufen, sehe sie dann vor der Plakatwand mit den längst verfallenen Veranstaltungshinweisen und höre, dass sie die Plakate auswendig lernt. Sie alle haben eine gemeinsame Geschichte: das Stück, - ich kann und möchte es also nicht nacherzählen, das müssten die Figuren selber tun, und nicht zuletzt sprechen meine Figuren ja nie über sich selbst, sondern immer nur über den, auf den sie in dieser Nacht zufällig treffen. Sie betrachten sich eben mit den Augen eines Fremden und entdecken dann in dem Geschehen eine Geschichte, das heißt, sie erfinden sich gegenseitig, jeder gibt dem anderen eine Geschichte, - seine eigene." (Wolfgang Maria Bauer)
Wolfgang Maria Bauer
In den Augen eines Fremden
12 Szenen
2 D, 4 H, Verwandlungsdek
UA: 12.02.1994 · Bayerisches Staatsschauspiel (Residenztheater), München · Regie: Leander Haußmann
Übersetzt in: English, Estonian, French, Italian, Russian, Spanish