Tatsächlich, wenn die Existenz der Frau sich auf die von Männern geschriebene Dichtung beschränkte, dann hätte man sie sich als ein Wesen von ungeheurer Bedeutung vorzustellen. Von ganz unterschiedlicher Wesensart, heroisch und niederträchtig, großartig und gemein, unendlich schön und extrem hässlich, so groß wie der Mann, mögen manche meinen, ja größer noch. Doch dies ist die Frau in der Dichtung. In Wahrheit wurde sie, wie Professor Trevelyan hervorhebt, eingesperrt, geschlagen und durchs Zimmer gestoßen.
So zeichnet sich denn ein sehr eigenartiges Mischwesen ab. In der Phantasie ist sie von höchster Bedeutung. Praktisch jedoch völlig unbedeutend. Die Poesie ist von der ersten bis zur letzten Zeile von ihr durchdrungen. Nicht, dass sie in der Geschichte nicht vorkäme - in der Literatur beherrscht sie das Leben von Königen und Eroberern. In der Wahrheit aber war sie die Sklavin eines jeden Knaben, dessen Eltern ihr gewaltsam einen Ring auf den Finger steckten. Einige der inspiriertesten Worte, der tiefsten Gedanken stammen von ihren Lippen. In wirklichen Leben jedoch konnte sie kaum lesen, kaum buchstabieren und war der ausschließliche Besitz ihres Gatten. Es ist wahrlich ein seltsames Ungeheuer, das man sich vorzustellen hat, wenn man erst die Historiker und danach die Dichter liest. Ein Wurm mit Adlerschwingen. Der Geist der Schönheit, wie er in der Küche steht und Rindertalg hackt. (Virginia Woolf)
Virginia Woolf
Ein Zimmer für sich allein
(A Room of One's Own)
Deutsch von Karin Kersten
1 D, 1 Dek
UA: März 1991 · Lamb´s Theater, New York · Regie: Patrick Garland