«Es braucht auch Männer mit Phantasie in der grossen Politik. Nicht zu viele, Gott behüte, aber ein paar davon braucht es.»
Mag der Föhn stürmen wie er will, der blinde Vater will seinen Sohn Heinrich mit Girlanden, Lampions und Fahnen begrüssen. Denn dieser kehre schliesslich am Tag der deutschen Kapitulation, am 8. Mai 1945, von einer erfolgreichen Mission zurück. Er habe „in grosser, schwerer Zeit“ die Berliner Gesandtschaft geleitet und damit die Schweiz geschickt vor dem Krieg bewahrt. Doch das familiäre Willkommensfest nimmt in Thomas Hürlimanns Theaterstück Der Gesandte (Uraufführung: Schauspielhaus Zürich 1991) die schlimmstmögliche Wendung: Heinrich Zwygart wird vom Bundesrat fallen gelassen. Allein der „kompromisslose Widerstandswille des Generals“ habe die Schweiz gerettet, nicht die diplomatische Gratwanderung zwischen Anpassung und Neutralität im Umgang mit dem Dritten Reich. So wird nun Zwygart als „Landesverräter“ isoliert und dem allgemeinen Vergessen preisgegeben. Im immer dichter fallenden Schnee verliert sich denn seine Spur unter Klaviertönen Richard Wagners.
Das im 700. Jubiläumsjahr der Eidgenossenschaft uraufgeführte Stück Hürlimanns stellt provokativ eine Wendezeit in den Mittelpunkt, in der politisch clevere Opportunisten ihre Überzeugungen ebenso schnell wechseln wie sie ihr Geschichtsverständnis der Schweiz im Zweiten Weltkrieg neu definieren. Im Strudel solch kollektiver Lebenslügen geht unter, wer wie Zwygart weiterhin auf seiner historischen Bedeutung beharrt, ähnlich wie der seiner Figur real zugrundeliegende Hans Frölicher, der umstrittene, mondäne Schweizer Gesandte in Berlin von 1938 bis 1945. (Severin Perrig)
Thomas Hürlimann
Der Gesandte
Stück in 7 Bildern
1 D, 3 H, Verwandlungsdek
UA: 14.05.1991 · Schauspielhaus Zürich · Regie: Achim Benning
Übersetzt in: English