Ein Mann betritt ein Zimmer, einen Saal, eine Halle, einen Hangar. Oder so etwas wie ein unterirdisches Feld, einen Acker unter Tag. Der Mann ist hier, um einen Toten nach der Zukunft zu befragen: Teiresias. Wer will das nicht: in die Zukunft sehen können. Und wer würde nicht gerne einmal, nur ein einziges Mal mit den Toten sprechen können: Erzähl mir, wie es war, wie war es wirklich, damals. Eine Begegnung mit Menschen, deren Zeit vorbei ist.
Aber wer sagt, ob hier nicht alles vollkommen durcheinander gerät: Vielleicht ist der Blick eines Toten in die Zukunft nichts als die verzweifelte Rekonstruktion einer verlorenen Vergangenheit. Um ihren Tod zu begreifen, feiern die Toten das Leben. Jeder wiedergefundene Moment ist kostbar. Schön war die Zeit, sagt einer. Wann waren wir wirklich lebendig, wirklich wirklich lebendig.
Als ich mit dir die Straße lang gelaufen bin, Hand in Hand, hoffnungslos verliebt.
Lass uns tanzen.
Die Schatten der Unterwelt durchleben immer wieder die wichtigsten Momente ihres Lebens – aber welche Momente sind wichtig, welche unwichtig. Wer soll das am Ende eines Lebens entscheiden? Odysseus braucht den toten Seher Teiresias, um in die Zukunft zu blicken, aber die Toten brauchen Odysseus, um ihre Vergangenheit zu deuten. Sie versuchen verzweifelt, ihrer Vergangenheit einen Sinn zu geben.
Odysseus selbst kann keine Antworten geben, denn ihm selbst geht, zurückblickend auf die verlorene Zeit im Krieg und ausblickend auf die vor ihm liegenden Gefahren, der Sinn verloren. Er schnappt nach Luft. Wohin von hier noch aufbrechen? Aber es sammelten sich unzählige Scharen von Geistern mit grauenvollem Geschrei, und bleiches Entsetzen ergriff mich. (Roland Schimmelpfennig)
Roland Schimmelpfennig
Der elfte Gesang
Odyssee Europa
Auftrag für Ruhr2010 und das Schauspielhaus Bochum
UA: 27.02.2010 · Schauspielhaus Bochum · Regie: Lisa Nielebock