Sie ist einfach, diese Geschichte, einfach und bitter. Sie erzählt, wie Napoleon einem Leutnant namens Fourès, der ihm bis dahin treu gedient hatte, kurzerhand die Frau wegnahm, weil er sie haben wollte. Er konnte sie ihm wegnehmen, weil er seine Macht dazu missbrauchte. So böse diese Begebenheit sich auch anhören mag, Sensationelles haftet ihr nicht an, denn Napoleon war nicht der erste, der so etwas getan hatte - und sicherlich auch nicht der letzte. Schon durch die Wahl des Titels weist Zweig deshalb auf die Austauschbarkeit der handelnden Personen hin, auf die Zeitlosigkeit des behandelten Stoffes. Bewusst hat er die Bezeichnung eines Gleichnisses aus dem Alten Testament dafür gewählt.
Es ist nicht verwunderlich, dass ein solches Thema das Interesse des Humanisten Zweig fand. Nirgends hätte er besser den Missbrauch von Macht gegenüber einem einzelnen aufzeigen können als hier, wo einem Menschen durch bloße Willkür und Besitzgier eines anderes das Liebste genommen wird, was er besitzt. Zweiges Fourès wehrt sich zwar mit der ganzen Verzweiflung seines gequälten Herzens gegen die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit, aber - und das ist das Erschreckende in diesem Stück - es ist ein auswegloser Kampf: Der Apparat der Macht, den ein Mächtiger um sich aufzubauen weiß, ist stärker. Er zermalmt alles, was sich ihm in den Weg stellt.
In der Gestalt des Napoleon zeichnet der Autor jedoch nicht nur den skrupellosen Menschen, er zeichnet in ihr auch den Menschen, von dessen Persönlichkeit eine ungeheure Faszination ausgeht. Aber gerade diese Faszination ist es, die ihn gefährlich macht, die es ihm überhaupt ermöglicht, an die politische Macht zu gelangen. (Landestheater Linz)
Stefan Zweig
Das Lamm des Armen
Tragikomödie in 9 Bildern
2 D, 11 H, 2 Dek
UA: 15.03.1930 · Hannover / Lübeck / Prag