Alle Jahre wieder kommt das Weihnachtsmärchen und damit auch jedes Jahr die Angst vor und die Vorfreude auf das gnadenloseste und begeisterungsfähigste Publikum der Welt: Kinder. Für die jungen Theaterbesucher in Darmstadt hat Annette Raffalt die Legende ALAADDIN UND DIE WUNDERLAMPE neu geschrieben, ohne sich eines westlichen Blickes auf die arabische Welt schuldig zu machen. Verena von Bassewitz über eine doppelte Emanzipationsgeschichte, die vom universalen Verlangen nach Freiheit erzählt.
Die Geschichte stammt aus dem arabischen Raum, nein aus Indien. Wurde sie nicht von einem Franzosen geschrieben? Und spielt sie nicht vielleicht doch in China? Die Geschichte vom Bettler Alaaddin, der in den Besitz einer Wunderlampe kommt, die ihm seine sehnlichsten Wünsche erfüllt, ist in vielen Ländern beheimatet. Damit ist die Legende genauso international und multilingual wie das Ensemble, das sich in der Uraufführung auf der Bühne des Staatstheater Darmstadt versammelt. Die Zuschauer:innen werden auf Deutsch, Englisch, Türkisch, Französisch und Arabisch begrüßt, noch sind keine Rollen verteilt. Die Geschichte könnte überall spielen und jeder kann alles sein. Denn überall auf der Welt leben Kinder in Armut und überall wollen diese Kinder über das hinauswachsen, was die Gesellschaft in ihnen sieht. Und in der ganzen Welt emanzipieren sich junge Frauen von ihren Vätern und den Traditionen, die ihnen aufgezwungen werden, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein guter Ausgangspunkt also, um eine hunderte Jahre alte Legende zu entstauben und für die Bühnen von heute interessant zu machen.
Alaaddin, der große Erfolg der Walt Disney Studios aus dem Jahre 1992, hat unsere Sichtweise auf die Legende am meisten geprägt. In diesem Film herrscht der westliche Blick auf die arabische Stadt Agrabah vor, in der Wärter mit großen Säbeln Dieben die Hände abschneiden. Ein Land, in dem wunderschöne Prinzessinnen in bauchfreien Gewändern zwar dem Palast entfliehen wollen, aber den ersten charmanten Hochstapler heiraten, um mit ihm in den Palast zu ziehen. Ein fernes Land, in dem ein Sultan herrscht, der zwar gutmütig und weise ist, für den aber die Nöte seiner Untergebenen und seiner Tochter vollkommen irrelevant sind.
Annette Raffalt rüttelt die Geschichte von Alaaddin und der Wunderlampe mächtig auf und hat in der Legende viele Konflikte unserer Zeit herauskristallisiert. Dabei erzählt sie als Autorin und Regisseurin der Uraufführung eine universale Geschichte über den Wunsch nach Freiheit. Alaaddin ist gefangen in der Armut und wird von der Gesellschaft verlacht und beschimpft. Dabei sehnt er sich nach der Anerkennung und Selbstbestimmung, die Reichtum vermeintlich mit sich bringt. Prinzessin Hamirah ist todunglücklich eingesperrt hinter den Mauern des Palastes, in denen ihr Vater sie zur Heirat mit dem reichsten Bewerber zwingen will, um sein ausschweifendes Playboyleben zu finanzieren. Sie ist frech und aufmüpfig und konfrontiert ihren Vater mit der Armut, die in seinem Land herrscht. Als Alaaddin und Hamirah sich auf dem Bazar begegnen, ist für Beide klar, dass sich in ihrem Leben etwas ändern muss. Aber ist ein Genie aus der Lampe der Retter in der Not oder auch nur eine verlorene Seele, die ebenso wie Alaaddin und Hamirah von der Sehnsucht nach Freiheit getrieben wird? Gemeinsam müssen die Drei gegen Vorurteile, Lügen und einen bösen Zauberer kämpfen und entdecken dabei, dass sie ihre größten Wünsche nur aus eigener Kraft erfüllen können. Mut, Intelligenz und ihre Freundschaft begleiten unsere Helden durch ein temporeiches und spannendes Abenteuer, das anders endet, als die Legende es vorsieht. Denn Alaaddin und Hamirah denken gar nicht erst daran, den Thron zu besteigen und sich wieder in ein gesellschaftliches Korsett zwängen zu lassen. Gemeinsam ziehen sie mit offenen Herzen und einem bunten Schiff in die Welt hinaus, um wirklich frei zu sein und ihr Glück mit den Armen der Welt zu teilen.
Mit viel Humor und szenischem Gespür hat Annette Raffalt ein Emanzipationsstück geschrieben, das mit bekannten Motiven spielt und dabei die Gefahr des westlichen Orientkitsches gekonnt umschifft. Alaaddin und die Wunderlampe zeigt kleinen und großen Zuschauer:innen, dass es egal ist, aus welcher Kultur wir kommen, ob wir arm oder reich geboren wurden, denn unsere Wünsche und Hoffnungen für eine bessere Zukunft machen uns alle irgendwie gleich.
Uraufführung / Alaaddin und die Wunderlampe / Alaaddin’in Sihirli Lambası / अलाडिन र चमत्कारी बत्ती / Aladin et la lampe miracle / Besonders empfehlenswert ab 6 Jahren
Staatstheater Darmstadt
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