Guido Wertheimer ist einer von drei ATT Atelierautor:innen am Deutschen Theater in Berlin. Im März gab er einen Einblick in seinen Theatertext, der am 21. Juni bei der Langen Nacht der Autor:innen präsentiert wird. Begeben wir uns zusammen mit dem Autor in das pflanzenüberwucherte Trümmertheater mitten in Berlin. Den kompletten Text finden Sie hier.
Prolog
Eines Tages wird dieses Theater in Trümmern liegen.
Das ist keine apokalyptische Prophezeiung, keine Botschaft der Angst, kein romantischer Diskurs über den Untergang oder die Zerstörung.
Es ist einfach so, wie es mit diesem und allen Theatern sein wird.
In dieser und in allen Städten.
Einfach so.
Es wird einen Moment geben, in dem alle, die hier drin sind, fliehen müssen.
Ich verwende das Wort fliehen bewusst, obwohl ich weiß, dass nicht jeder Rückzug eine Flucht ist.
Ein Theater zu verlassen bedeutet immer zu fliehen.
Die Situationen können variieren, aber das Schicksal ist, wie wir aus den griechischen Tragödien gelernt haben, immer dasselbe: Ruinen.
Ich selbst werde wahrscheinlich unter einem Scheinwerfer zu Staub zerfallen.
Es beruhigt mich, so zu denken.
Das ist unser Schicksal, das ist das Schicksal der Orte, an denen wir leben.
Einfach so.
Ich glaube nicht, dass Ruinen schrecklich sind, genauso ist der Tod nicht schrecklich.
Es stimmt, es macht etwas wehmütig zu wissen, dass wir nicht mehr nötig sein werden.
Weder wir noch unsere Sprache.
Aber lassen wir die Wehmut für einen Moment beiseite, bitte.
Es ist mutig, zu erkennen, dass unsere Körper bald verschwinden werden.
Und mit ihnen unsere Stimmen und unsere Worte.
Die Tatsache, dass wir nicht mehr hier sein werden, kann nicht als Unglück betrachtet werden. Das Aussterben einer Art ist Teil eines natürlichen Prozesses.
Vielleicht eine neue geologische Zeit?
Egal. Es ist egal, wie man es nennt. Die Zukunft und ihre verschiedenen Formen: Es hat keinen Sinn, dafür einen Namen zu finden.
Eines Tages wird dieses Theater in Trümmern liegen.
Wie das Theater von Korinth in Griechenland.
Oder das Drama Theater von Mariupol, in der Ukraine.
Eines Tages wird es auch hier passieren.
Im nächsten oder übernächsten oder überübernächsten Krieg.
Es wird einen Moment geben, in dem auch wir fliehen müssen.
Dann die leeren Sessel, die ausgefallenen Scheinwerfer, die zerschlissenen Vorhänge.
Dann werden kleine und große Tiere, Insekten aller Art, einheimische Pflanzen und neue mutige Arten kommen.
Schlangen, Mäuse und Fledermäuse.
Das Theater wird sich mit Schlangen, Mäusen und Fledermäusen füllen.
Darunter wird die Panke bestenfalls weiterfließen, bis sie schließlich in die Spree mündet.
Das klingt gut, oder?
Das klingt nach einem guten Ende für das renommierte Deutsche Theater in Berlin.
Aber Ruinen sind nicht nur ein sprachliches Ereignis.
Fragt doch mal die palästinensischen Familien in Gaza!
Fragt doch mal die Schauspieler des Theaters in Mariupol!
Ruinen kann man anfassen.
So wie man einen frisch vom Baum gefallenen Apfel anfassen kann.
So wie man einen Toten berühren kann.
Die Ruinen sind real.
Und sie sind wirklich sehr nah.
Man muss bereit sein.
Man muss lernen, sie zu berühren und sich so auf den Einsturz vorzubereiten.
Aber wie? Ich weiß es natürlich nicht.
Ich glaube, es wird entscheidend sein, eine Gedankenkette zu führen.
Ruhe, Konzentration, Fantasie.
Vor allem eine klare Gedankenkette führen.
Mit Rissen und Lücken, klar.
Aber ein Gedanke, wie auch immer, der zu einem bestimmten Ort führt.
Ich habe einen Gedanken, ja.
Ich habe ihn, seit ich letzten Sommer zum ersten Mal in dieses Theater kam, als die Spielzeit unterbrochen war und alle nach Hause gegangen waren, um sich auszuruhen.
Ein Gedanke kam zu mir, zufällig, wie Gedanken an heißen Tagen kommen.
Ich lief stundenlang durch die Gänge, die sich in Tage und dann in Wochen verwandelten.
Ich öffnete alle Türen, die sich öffnen ließen.
Ich sah überall Geister.
Ich sprach mit ihnen.
Ich hörte die Uhren in den Gängen.
Tick, tack, tick.
Tack.
Ich träumte von den Ruinen dieses Ortes.
Inmitten der Ruinen wurde ich von einer Schlange umarmt.
Dann wachte ich wieder auf und schrieb erneut ein Science-Fiction-Stück, das im Juni beim Festival aufgeführt werden soll.
Eines Nachts, als ich an dem Text arbeitete, spürte ich eine Vibration im kleinen Dramaturgie-Büro.
Zuerst war sie so schwach, dass ich mir keine Sorgen machte.
Dann bewegten sich die Lampen, Bilder fielen herunter, ein Alarm ging los.
Es kann nicht sein, dachte ich.
Es ist keine Erdbebenstadt, dachte ich.
Vielleicht ist es nur eine Fantasie meines müden Kopfes, dachte ich.
Eines Tages wird dieses Theater in Trümmern liegen, dachte ich.
Ich selbst werde wahrscheinlich unter einem Scheinwerfer zu Staub zerfallen.
1. Fledermäuse
Ich werde versuchen, meinen Aufenthalt am Deutschen Theater Berlin kurz zu beschreiben.
Ich verspreche nicht, den Tatsachen treu zu bleiben, aber den Träumen schon.
Sommer 2024.
Jedes Mal, wenn der Abend hereinbrach, erschien eine Fledermaus, die über den Vorhof des Deutschen Theaters flog.
Direkt vor der Eingangstür kreiste sie in verschiedene Richtungen, blind, aber nicht verloren.
Ich habe keine Beweise dafür, dass es jeden Tag dieselbe Fledermaus war.
Das geflügelte Tier flog jeden Abend vor meinen Augen vorbei.
Als wäre es ein Engel, hatte ich das Gefühl, dass sie sich um mich kümmerte.
Nach einigen Tagen begann ich Angst zu haben, dass sie mir zu nahe kommen könnte.
Jeden Abend dachte ich: Jetzt kommt der Moment, in dem sie sich verirrt und durch das Fenster fliegt.
Aber das geschah natürlich nicht.
Die Fledermaus wollte nicht im selben Raum sein wie ich.
Sie wollte Teil sein, ja.
Sie wollte anwesend sein, natürlich.
Vielleicht war das die Art und Weise, wie die Fledermaus Teil meines Textes wurde.
Aber die Fledermaus betrat den Raum nicht.
Sie betrat dieses Theater nicht.
Und doch ist sie heute Abend unter uns.
Sie hat es leise geschafft.
Stille.
Könnt ihr sie hören?
Man hört sie.
Vibrationen.
Geheime Botschaften.
Die Fledermaus sagt mir: Man darf keine Angst haben, zu verschwinden!
Man darf keine Angst haben, anderen unseren Platz zu überlassen.
Sein ohne zu besetzen, sagt sie.
Sie sagte und wiederholte wie ein Mantra:
Sein ohne zu besetzen.
Sein ohne zu besetzen.
Sein ohne zu besetzen.
Es muss immer wie ein Flüstern gesagt werden.
Ein Murmeln zwischen dem Lärm.
Sein ohne zu besetzen.
Wie die Fledermäuse, die jetzt unter uns sind, aber wir können sie nicht sehen.
Stille.
Man hört sie.
Vibrationen.
Echo.
Geheime Botschaften.
Hört ihr sie?
Man hört sie.
Man muss genau hinhören.
Vibrationen.
Echo.
Geheime Botschaften.
Sein ohne zu besetzen.
Für eine Weile unserer menschlichen Form entfliehen.
Ohne uns zu zeigen, ohne unsere Gesichter, unsere Gesten zur Schau zu stellen.
Als ob wir eine neutrale Maske aufsetzen könnten.
Die Augen blind.
Eine Stimme, die mehr wie Stille klingt.
Stille.
Zurück.
Sommer 2024.
Ich bin allein im Theater und alles ist still.
Die Menschen verlassen Berlin im Sommer, und ich verstehe nicht, warum, wenn es eigentlich die beste Zeit ist:
Die Bäume sprießen, der Himmel ist ein hellblauer Mantel, der Tag ist ewig und die Nacht ist voller Engel.
Die Menschen tauchen nicht auf.
Sie sind auf Mallorca, auf Ibiza oder an einem dieser überlaufenen Orte.
Die beste Zeit, um durch diese Straßen zu gehen, ohne Zweifel.
Also ich verbrachte den ganzen Sommer in der Nähe dieser Straßen.
Es war fast kein einziger Lärm zu hören.
Ich verbrachte den Sommer, ohne jemanden zu sehen.
Spazieren, einfach so.
Ich streifte zwischen den Gebäuden in Mitte umher wie eine Fledermaus.
Vom Naturkundemuseum bis zum Bahnhof Friedrichstraße.
Immer wieder derselbe Weg.
Einige Leute sahen mich.
Sie boten mir an, hereinzukommen.
Ich beschloss, meinen Weg fortzusetzen.
Wie eine Fledermaus.
Dann wurde es Abend.
Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück.
Ich schrieb ein wenig.
Ich legte mich auf den Teppichboden des Büros.
Ich hörte ein Album von Ryūichi Sakamoto, das mich zum Weinen brachte.
Ich übte mich darin, die ganze Zeit weniger präsent zu sein.
Das ist nicht dasselbe wie abwesend zu sein.
Sein ohne zu besetzen.
Das klingt ein bisschen seltsam für einen Vortrag über Theater.
Man sagt normalerweise: Wir brauchen eine absolute Präsenz.
Ich denke, wir müssen die Vorstellung aufgeben, dass wir immer im Hier und Jetzt sein können.
Ein Theater ohne Präsenz: Man muss sich fallen lassen.
Körper ohne Koordination, ohne Rhythmus.
Körper ohne Muskeln.
Wie eine Fledermaus, wenn sie schläft.
Einfach so.
Dann sind die Bilder vorbei.
Die Lichtshow ist vorbei.
Wenn wir eine Weile im Dunkeln sind, können die Augen zwischen den Schatten sehen.
Dank der Anpassung der Pupillen und der Netzhaut gewöhnen sich die Augen immer daran, im Dunkeln zu sehen.
Jeder weiß es: In einem dunklen Raum sieht man nach einer Weile alles.
Wenn man so lange verwirrt ist, fängt man an, alles wieder zu erkennen, auf eine andere Art.
Theater ohne Gegenwart.
Theater im Dunkeln.
In einem leeren Gebäude.
Theater in den Resten.
Darüber wollte ich heute Abend sprechen:
Theater in Trümmern.
Alles fällt.
Endlich.
Alles fällt.
Und wir sind unter allem.
Wir sind unter der Erde.
Für ein paar Minuten Stille und Dunkelheit.
Hier ist nichts.
Keine Aufführungen, keine Simulationen, keine Imitationen, nichts.
Die Zeit des Grotesken ist vorbei.
Sowas hat mir ein deutscher Regisseur gesagt.
Einer, der in der Vergangenheit viel in diesem Theater gearbeitet hat.
Die Zeit des Grotesken ist vorbei, sagte er, während er nach einer Premiere ein Glas Wein in der Hand hielt.
Hat er es mir gesagt oder mich darum gebeten?
Es war wie ein Gebet zwischen zwei Generationen.
Als hätte er zu mir gesagt: Macht es nicht noch einmal.
Hört rechtzeitig auf!
Lasst die absurden Aufführungen hinter euch!
Hört auf mit der Hermetik.
Hört auf mit der Übertreibung.
Seid klar, denkt gemeinsam, macht das Licht aus, macht Stille.
Zumindest für eine Sekunde.
Schweigen.
Das Groteske ist im Leben da draußen präsenter denn je, sagte er.
Bei denen, die orangefarbene Haut und falsche Zähne haben.
Bei denen, die die Fahnen der Freiheit hissen und die Zerstörung jeder Art von Gemeinschaft propagieren.
Bei denen, die Mützen mit idiotischen Slogans tragen, die aus dem Norden der Welt heraus Dummheit fördern.
Bei denen, die andere in ihre Häuser einladen, nur um sie zu demütigen.
Sie haben keine Seele.
„Make Germany great again“, sagte der deutsche Regisseur lachend und tanzte, so wie die groteskeste und zugleich realste Kreatur auf diesem Planeten tanzt.
Dann verabschiedete er sich, etwas betrunken, mit einer väterlichen Umarmung.
Ich denke, wir müssen zurück in die Schatten.
Schattentheater.
Wir müssen wieder mit unserem Spiegelbild an der Wand experimentieren.
Wie in „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, die Radierung von Goya, auf dem ein menschlicher Körper, scheinbar erschöpft, auf seinem Schreibtisch liegt.
Auf dem Grund des Bildes sind Monster zu sehen.
Fledermäuse, Eulen und eine Raubkatze.
Sind das echte Tiere oder nur ein menschlicher Schatten?
Ich weiß es nicht.
Das hängt wahrscheinlich davon ab, wer sie betrachtet.
Es hängt vom historischen Moment ab.
Es hängt davon ab, wie jeder einzelne mit der Dunkelheit umgeht.
Aber zurück zum Thema: Theater in Trümmern.
Sich von Geistern durchdringen lassen.
Unter den unterirdischen Göttern nach einer Antwort für diese so oberflächliche Welt suchen. Auch wenn es nur für diesen einen Akt ist, unseren ganzen Körper in den Tartaros hinabsteigen lassen. Die traurigen Asphodelenwiesen besuchen, wo die Seelen der Helden ziellos unter den Toten wandeln.
Fliehen.
Einfach so.
Denn man muss den Kern erreichen.
Unter der Erde suchen.
In den Bunkern oder in den Höhlen.
Man muss sich mit der Vorstellung abfinden, dass wir bereits hier sind: auf der letzten Stufe der menschlichen Moral.
Weiter unten ist nur Leere.
Und vielleicht sollten wir dorthin hinabsteigen.
Von der menschlichen Bühne herabsteigen.
Die Podeste der Sprache und der Handlung verlassen.
Deshalb schlage ich Folgendes vor: Ein letzter Monolog.
Ein letzter Monolog, der in einem Schweigen endet und der dieses Schweigen endgültig sein soll. Der Engel wird am Ende des Stücks sagen:
Wir müssen verschwinden.
Es wird ein langsamer Prozess.
Als würde man sich eines Nachts auf einen Stuhl mitten auf dem Feld setzen
und darauf warten, dass der Mond verschwindet.
Ein Prozess, der Hunderttausende von Jahren dauern kann.
Adieu, wir gehen.
Es werden sicher glücklichere Tage kommen.
So sagen wir immer:
Ohne diesen blinden Glauben ist es unmöglich zu überleben.
Die glücklichen Tage werden kommen, ja
aber zuerst sollten wir darüber nachdenken
was ein glücklicher Tag in dieser Stadt bedeutet
wie ein glücklicher Tag anbricht
wie die Bäume an einem glücklichen Tag aussehen
wie der Himmel aussieht, wie die Sonne aussieht
wie der Abend an einem glücklichen Tag aussieht?
wie es endlich Nacht wird an einem glücklichen Tag?
Glückliche Tage müssen eine gemeinsame Idee sein
oder sie werden nichts
Adieu, wir gehen jetzt
und diesmal für immer
Macht euch keine Sorgen
bleibt einfach ruhig
KONZENTRATION, FOKUS, RUHE, MUT
Seid zusammen
fragt euch alles, die ganze Zeit
fragt euch alles, die ganze Zeit
hasst viel, hasst gut
liebt ab und zu
mit dem ganzen Körper, wie ein Tier
mit Gedächtnis, wie ein Mensch
habt Mitgefühl
über alles
habt bitte
MITGEFÜHL
Wenn das Licht ausgeht
wird der Zuschauer Teil des Ökosystems
Ein vielfacher Organismus dieses unendlichen Waldes
Der Zuschauer wird Teil des Waldes
Adieu, wir gehen
wer hierbleiben will, kann bleiben
und zusehen, wie die Wurzeln zwischen den Zuschauerplätzen wachsen
und zusehen, wie dieses baufällige, tote Theater
endlich ein Wald wird
und die ganze Stadt ein großer Wald
in dem Hirsche, Füchse, Hasen und Wildschweine herumlaufen
in dem Fledermäuse, Mäuse und Schlangen schlafen
ein schöner Wald, in dem alle willkommen sind
außer natürlich die Hassverbreiter, die Tyrannen und die Volksverhetzer!
Auf der großen Bühne werden wir ein Denkmal errichten
für diejenigen, die im Verlauf all dieser Worte gestorben sind
Endlich wird dieses Theater für alle offen sein!
Für die Lebenden und die Toten, für die von hier und für die von dort
Für diejenigen, die vertrieben wurden, willkommen!
Hoffentlich sind sie heute Abend unter uns
Hoffentlich seid ihr auf seltsame Weise in dieses große nationale Theater gelangt
und könnt diese Worte hören
Ab heute wird dieser Ort keinen Namen mehr haben
Heute Abend werden wir das Schild an der Tür entfernen
Niemand sonst wird ihn benennen können
Es wird
EIN THEATER OHNE NAMEN
OHNE WORTE
OHNE VORSTELLUNGEN
OHNE SPRACHEN
OHNE GESTE
NUR GESANG
Der Engel macht hier keine apokalyptische Prophezeiung.
Die Ruinen dieses Theaters sind auch eine Utopie.
Die Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand.
Vor dem Lärm, vor der Sprache.
Unter Wasser oder unter der Erde.
Wo man das Echo hört.
Echo.
Vibrationen.
Geheime Botschaften.
Hört ihr sie?
Man hört sie.
2. Mäuse
Ich beginne diesen Text, den ihr gerade hört, am 23.02.2025 in Buenos Aires zu schreiben. Es ist 18 Uhr in Argentinien und 22 Uhr in Deutschland.
Es ist Wahltag, wie ihr wisst: 20 % der Bevölkerung haben für die AfD gestimmt, die extremste Partei, die es in diesem Land seit dem Nationalsozialismus gab.
Das bedeutet wörtlich, dass jede fünfte Person möchte, dass die Migranten dieses Land verlassen. Verlassen oder sterben.
Das ist keine apokalyptische Prophezeiung.
Das ist die Realität Deutschlands heute.
Jede fünfte Person mit Stimm- und Entscheidungsbefugnis möchte, dass ihr Nachbar keinen Zugang mehr zu einer Wohnung, einem Arbeitsplatz, einem Asyl oder einem eigenen Traum in diesen verseuchten Ländern hat.
Ich denke an meine lateinamerikanischen Freunde. Ich denke an meine syrischen Nachbarn in Wedding. Ich denke an das Mädchen mit den lockigen Haaren, das ich seit vier Jahren an der Ecke meines Hauses spielen sehe.
Sie kommt von einer Insel in Griechenland, ihre Eltern sind während der Krise in diesem Land angekommen. Sie führt eine Gruppe von Migrantenkindern an, die durch das Viertel spazieren.
Kinder, die lachen.
Kinder, die sich streiten.
Kinder, die mit einem Ball spielen.
Kinder, die Nachrichten auf den Boden schreiben, in Sprachen, die ich nicht verstehe.
Geheime Botschaften.
Die Kinder gehen die Straße entlang.
Die Straße gehört ihnen, das wissen wir alle.
Jede fünfte Person möchte, dass dieses Mädchen mit den lockigen Haaren auf die Insel zurückkehrt.
Das Mittelmeer kann ein wunderschönes Meer oder ein Albtraum sein.
Jede fünfte Person denkt nicht darüber nach.
Weder an das Mädchen mit den lockigen Haaren noch an das Meer.
Aber die Mäuse.
Die Mäuse tauchen an schmutzigen Orten auf, in Ruinen, die nie geplant waren.
Die Mäuse tauchen auf und machen kleine Geräusche.
Die Mäuse machen Menschen Angst.
Wenn das Mädchen mit den lockigen Haaren aus diesem Land abgeschoben wird, werden Mäuse in ihrem Haus auftauchen.
In den Ruinen der ehemaligen Migrantenhäuser in Berlin werden Mäuse auftauchen.
Sie werden diejenigen erschrecken, die nach ihnen an ihrem Platz wohnen wollen.
In den Ruinen dieses Theaters könnten sie auch auftauchen.
Die Mäuse gegen das groteske Theater, ja.
Die Mäuse schüchtern die Tyrannen dieses Landes ein.
Die Mäuse haben eine Stimme.
Die Mäuse kriechen zwischen den Wasserrohren und lassen die Wände erzittern, die für Mörder stimmen.
Sie tun es, ohne gesehen zu werden.
Sein ohne zu besetzen
Vibrationen.
Echo.
Geheime Botschaften.
Die Mäuse kriechen, die Tyrannen erschrecken.
Sie legen das Gift aus.
Die Mäuse sterben, stimmt auch.
Aber sie kommen immer wieder zurück.
Entschuldige, wenn ich ein wenig vom Thema abschweife.
Ich komme zurück: Theater in Trümmern.
Das Stück, das ich schreibe, ist eine Reise durch ein zerstörtes Berlin.
Die Reise beginnt im Humboldthain-Bunker.
Ein unterirdischer Ort, voller Mäuse.
Dieser Bunker wurde größtenteils von Migranten gebaut, damit sich die Deutschen vor den Bombenangriffen schützen können.
Jetzt ist er voller Mäuse.
Die Geschichte ist ungerecht.
Vor allem diese Geschichte ist ungerecht.
Wir müssen Helden schreiben, die sich an unmögliche Orte begeben können.
Helden müssen diejenigen hassen, die uns hassen.
Dieses Stück, das ich schreibe, handelt hauptsächlich von Hass.
Die Helden werden ihre Mäuler öffnen und aus ihren Mäulern werden sie eine Menge Mäuse vertreiben. Die Mäuse werden sich heimlich in die Paläste derer schleichen, die uns hassen. Derer, die Mörder wählen.
Derer, die keine Seele haben.
Ein Theater voller Mäuse.
Ein Theater, das die Seelen zerfrisst.
Helden schreiben, die wie Mäuse diejenigen erschrecken, die uns erschrecken.
Aber kann man heutzutage jemanden in einem Theater erschrecken?
Mal schauen.
In dem Stück, das ich schreibe, gibt es eine Figur namens Monster.
In einer Szene sagt er:
Die Stadt ist dunkel da draußen und ihr seid so leuchtende Wesen
Ihr seid nicht bereit dafür, die Dunkelheit wird immer uns gehören
Es tut mir leid, aber ihr habt uns diese Funktion zugeteilt:
Für die Monster, die Dunkelheit
Euer Problem wird immer sein, dass eure Worte voller Widersprüche sind
Unsere Worte sind sicher, weil sie fest sind
Unser Ziel ist nur eines: Freiheit
Die Möglichkeit, in diesem Land frei zu sein
Und das ist kein besonders hohes Ziel, oder?
Uns geht es nicht um Ideen, uns geht es um das Leben
Wir wollen nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit
sondern auch eine Zukunft von tausend Jahren
Wir wollen die Ewigkeit für dieses Land
und deshalb steht Gott hinter unserem Wort
Und dann bekommt das Monster einen Schuss in den Kopf.
Oder mitten in die Brust, das ist noch nicht festgelegt.
Und er fällt zu Boden.
Und er wird von Mäusen gefressen.
So endet der zweite Akt.
Schaut.
Unter euren Füßen.
Die Mäuse!
Seht ihr sie?
Man sieht sie.
Sie murmeln.
Sie sind Teil unseres Ökosystems, unserer Träume und Albträume.
Sie wandern durch die Rohre.
In den U-Bahnen, in der Kloake.
Freunde unserer Exkremente.
Man muss sich mit den Mäusen vertraut machen, sofort!
Sie sind unter unseren Füßen.
Deshalb muss man sich mit den Mäusen vertraut machen.
Von ihnen können wir lernen, wie man entkommt.
Wir können lernen, uns in den Trümmern zu verstecken.
In den Ritzen zu verschwinden.
Häuser an unmöglichen Orten zu errichten.
Trümmertheater.
Dort gehen die Helden schließlich hin: Um aufzuräumen, was vom Krieg übriggeblieben ist. Um zwischen den Toten Amphitheater zu errichten.
Dort sind die Helden und die Mäuse.
Unten, dort sind sie.
Man sieht sie.
3. Schlangen
Ich werde mich nicht der Fantasie verweigern.
Es gibt Dinge, die ich sehen kann.
Es gibt Dinge, die ich hören kann.
Egal, ob sie da sind oder nicht.
Ich werde mich nicht der Möglichkeit verweigern, in einer fiktiven Sprache zu sprechen. Einer Sprache, die nicht existiert.
Wie der Engel sagte: Ein Theater ohne Sprache ist das Theater, in das wir ziehen.
Aber was kommt nach der Sprache? Was kommt nach dem Verb?
Tausende Jahre, in denen die Antwort auf diese Frage aufgeschoben wird. Wer kann eine neue Erde erschaffen? Und für wen wird diese Erde sein? Wer kann ein neues Theater erschaffen? Eine neue Zeit und einen neuen Raum?
Ist es wichtig, darüber nachzudenken, oder geht das zu weit?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass jemand über die Überalterung unserer Sprache sprechen sollte.
Uns fehlen gerade Worte und Handlungen, um auf diese Welt zu antworten.
Wir sind kein Spiegel mehr von irgendetwas.
Der Spiegel ist total zerbrochen.
Ende der Repräsentation.
Der Spiegel ist begraben, zusammen mit unseren Herzen, unter den Häusern der zerstörten Städte. Dann können wir uns nicht einmal mehr in einem Spiegel betrachten und darüber nachdenken, was wir sind, wie wir uns verändert haben.
Wir können nicht einmal mehr wissen, worauf wir vertrauen.
So sagte eine junge palästinensische Aktivistin in Gaza, umgeben von Trümmern, in einem Instagram-Video, und so wiederholt eine der Figuren in dem Stück, das ich schreibe:
ICH VERTRAUE AUF NICHTS
ICH VERTRAUE DIESEN LEUTEN NICHT
ICH VERTRAUE DER WELT NICHT
ICH VERTRAUE DER ZUKUNFT NICHT
ICH VERTRAUE DEN HUMANITÄREN INSTITUTIONEN NICHT
ICH VERTRAUE DER BESETZUNG NICHT
ICH VERTRAUE NUR AUF DIE ERINNERUNG MEINES VOLKES
ICH VERTRAUE NUR AUF MEINE ERINNERUNG
Ich vertraue nur auf meine Erinnerung, sagt sie.
Weil man den Rest der Dinge nicht sehen kann. Weil alles von einer großen Staubwolke verdeckt ist. Staub und Schießpulver. Und man kann nicht vertrauen, ohne zu sehen, das ist reine Logik.
Ich vertraue nur auf meine Erinnerung, sagt sie. Als ob das Gedächtnis, irgendwo in ihrem Körper, als Informationsspeicher fungiert, der es ermöglicht, über die Tragödie, die Bomben, die Ruinen hinaus weiterzuleben.
Das Gedächtnis begleitet immer die Handlung.
Aus dem Gedächtnis entsteht eine neue Sprache, ein neues Theater.
Man kann eine Stadt nur mit dem Gedächtnis einer vergangenen Stadt wiederaufbauen.
Man kann ein Stück nur mit dem Gedächtnis eines vergangenen Stücks schreiben.
Das Gedächtnis von dem Fall.
Fallen, ja.
Sowieso gibt es eine Erinnerung daran, wie man wieder aufsteht, oder?
Wahrscheinlich müssen wir zuerst kriechen.
Wieder Reptilien sein.
Ein Reptilien-Theater vielleicht?
Hier kommt schließlich und endlich die Schlange.
Es ist Sommer 2024, ich mache auf der Bühne des Kammertheaters Siesta und träume von den Ruinen. Einige Tiere haben ihre Höhlen gebaut, andere haben sich entschieden, ihr Glück woanders zu suchen. Der Staub sammelt sich in den Ecken, auf den zerbrochenen Stücken alter Kulissen. Das Dach (das über euch ist) beginnt langsam einzustürzen. Das Geräusch der zerbrechenden Wände ist beunruhigend:
Niemand kennt die Geräuschgrenzen eines Einsturzes!
Zwischen den Wolkenkratzern dringt Licht ein. Das Theater wird von Sonnenlicht erhellt. Endlich lassen wir die LED-Leuchten, die Farbfilter, die Videoprojektionen und die extradiegetischen Klänge aus den riesigen Lautsprechern weg. Einfach nur das Sonnenlicht dringt in den Raum ein und erhellt, was hier noch übrig ist.
Und da, bei hellem Tageslicht, erblickt man eine Schlange, die sich zwischen den Zuschauerplätzen bewegt. Ihre Haut ist rötlich, ihr Auge voller Pixel.
Es gibt keine Vibrationen mehr.
Es gibt kein Echo mehr.
Es gibt keine geheimen Botschaften.
Alles ist bereit, lebendig, in Bewegung.
Die Schlange schlängelt sich zwischen den Sitzen dahin, dort, wo einst ein Publikum war. Es gibt keine Möglichkeit, den Schrei einer Schlange zu beschreiben.
Es ist minimal, es ist eine minimale Sprache.
Es gibt keine Möglichkeit, dieses Geräusch zu reproduzieren.
Aber es ist ein Geräusch, das fasziniert.
Es fasziniert und erschreckt zugleich.
Ich schreibe: Reptilien-Theater ist das, was gleichzeitig faszinieren und erschrecken kann. Es gibt kein Lebewesen auf diesem Planeten, das hypnotischer ist als eine Schlange. Vielleicht haben nur die Schlangen, die Sterne und der Teufel diese Macht. Alle alten Traditionen sprechen von der Schlange.
In den Ruinen alter amerikanischer Kulturen sind sie gemeißelt, intakt, wie ein Schatz der kollektiven Erinnerung. Denn die Schlange überlebt.
Sie erschreckt die Siedler. Sie ist fähig, sich selbst zu opfern, um ihre Sprache und ihre Form zu retten.
Die Schlange überlebt.
(Man weiß auch, dass die Schlange die Medizin repräsentiert. Diese Wissenschaft, die sich dafür einsetzt, dass der Körper am Leben bleibt. Schlangen, die sich für die Regeneration einer Sprache einsetzen. Für den Hautwechsel.)
Bestenfalls wird sich das Deutsche Theater eines Tages mit roten Schlangen füllen.
Die Schlangen werden die Toten auferstehen lassen.
Ein Schlangentheater ist ein Theater, das leise schreit.
Ein Theater noch nicht erfundener Sprachen: das Theater der Zukunft.
Ich träume weiter: Die Sommerhitze lässt mich nicht aufwachen.
Die Schlange kommt auf die Bühne und steigt hinauf.
Da liegt mein schlafender Körper.
Sein ohne zu besetzen, flüstert die Schlange, während sie sich meinem Körper nähert.
Ich spüre ihre kalte, schmierige Haut an meinem linken Beine.
Die Schlange wickelt sich um mich, wiegt mich wie ein Kind.
Ich träume von einem zerstörten Theater.
Am Ende werde ich zu Staub unter einem Scheinwerfer.
Und das wird schön sein.
Auch wenn es wehtut.
Es ist nicht die Zeit für Pessimismus oder Angst.
Lass uns einfach wie Staub vor dem Publikum vergehen.
Von nun an geschieht alles im Schatten. Wie in einer Höhle.
Höhlen-Theater.
Versammlungs-Theater.
Orakeltheater: Im Schatten sieht man die Zukunft.
Es ist nicht nötig, das zu benennen, was man dort sieht.
Das Theater ist schließlich die Kunst, die Zukunft zu sehen, ohne sie zu benennen.
Jetzt spielt ein Geist Klavier.
Ein Engel geht hinaus, um die Nacht zu beobachten.
Das griechische Mädchen mit den lockigen Haaren erzählt einen Mythos über ihre Insel.
Die anderen Kinder hören ihr aufmerksam zu.
Überall sind Fledermäuse, Mäuse und Schlangen.
Und viele andere wunderschöne Kreaturen.
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