Noëlle Haeseling & Alice Muitoevoli Rugai

Back to Baroque: Neue royale Dramen über queeres Verlangen und der schwierigen Work-Life-Balance am Königshof

Back to Baroque: Neue royale Dramen über queeres Verlangen und der schwierigen Work-Life-Balance am Königshof

Die Autor:innen Noëlle Haeseling und Alice Muitoevoli Rugai haben unabhängig voneinander neue Stücke geschrieben, die in einem historischen Setting absolut heutige Themen verhandeln. Beide Texte sind am erlauchten Hofe der Herrschenden angesiedelt und spielen mit Klischees von Historiendramen und der damaligen Ständegesellschaft. Dabei werfen sie einen sezierenden Blick auf unsere heutige Gegenwart. Johanna Schwung und Oliver Franke haben die beiden Autor:innen zu ihren neuen Texten befragt und begeben sich auf eine Zeitreise. 

 


FANFAREN!
(4 Personen) 
von Noëlle Haeseling

 

Das neue Stück von Noëlle Haeseling - FANFAREN! - hat den klingenden Untertitel: “Royales Lustspiel über die Arbeit, den Sinn unseres Daseins und die Naturtrompete”. Royal und musikalisch geht es am Königshof zu - oder auch nicht, denn eines Morgens erscheint der König einfach nicht zu seinem Frühstücksbankett. Plötzlich stehen die vier Fanfarenspieler:innen ohne König und ohne Anlass zum Musizieren da. Was tun? Um dem quälenden Schweigen etwas entgegenzusetzen, beschließen sie, Privates miteinander zu teilen. Sie reflektieren aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Generationen heraus Arbeit und Leben, Machtmissbrauch und Selbstaufgabe. Bald treffen sie eine radikale Entscheidung: Können sie zusammen ein neues Leben außerhalb der Festung beginnen?

 

In FANFAREN! befinden sich die titelgebenden Fanfaren-Spieler:innen in einem höfisch-hierarchischen Setting. Laut der Autorin entsteht daraus ein Raum für Selbstreflexion: 

 

“Was ist mein persönlicher Königshof? Wer oder was übt in meinem Leben Macht über mich aus? In wessen Dienst können und wollen wir uns überhaupt stellen? Sowohl im Privaten als auch im Beruflichen.”

 

Für Noëlle Haeseling steht der Königshof für Etikette und für Vorschriften, an die man sich ohne Widerspruch halten muss. Diese vorgefertigten Regeln in Frage zu stellen, wird gerade in der historischen Überhöhung greifbar. Oft sind wir gefangen in sozialen Zwängen, die uns anerzogen wurden: Sei  brav, sei fleißig (bis zur Selbstaufgabe), sei unauffällig  - häufig haben sich diese Anforderungen tief in unser Verhalten eingegraben. Durch den vermeintlich historischen Kontext wird ein humorvoller und absurder Blick auf unsere Gegenwart geworfen, denn die Figuren werden sich im Laufe des Stücks der Absurdität ihres “Arbeitsalltags” bewusst. Der Text wird zur Vorlage für alle, die einen Sinn in ihrer Arbeit suchen, und für all jene, die dies schon längst aufgegeben haben. Indem sie das Stück in eine unbestimmte Vergangenheit am Hofe eines Monarchen ansiedelt, schafft Noëlle Haeseling einen von uns völlig losgelösten Handlungsraum, um über aktuelle Themen wie Work-Life-Balance und toxische Machtstrukturen am Arbeitsplatz zu sprechen. Der scheinbar “banale” Büroalltag wird zum banalen Alltag am Hofe:

 

“Ich bin ein Fan von Fantasieorten im Theater. Wir sind in der Realität gerade von so vielen verwirrenden, beängstigenden und überfordernden Diskursen umgeben, dass ich es wichtig fand, einen anderen Ton, eine andere Umgebung zu suchen, als die, in der wir uns sowieso immer aufhalten. Das ist für mich auch die Power des Theaters: Irgendwohin mitgenommen zu werden und dort eine sinnliche Erfahrung zu machen, gemeinsam mit anderen Menschen. Und mit dieser Erfahrung wieder zurückzukehren in die Welt.” 

 

Mit diesen emphatischen Ausführungen von Noëlle Haeseling zur Kraft des Theaters setzen wir unsere kleine Zeitreise fort - und zwar an den barocken Hof von Queen Eliza…

 


CEMBALO
(3 Personen, UA frei) 
von Alice Muitoevoli Rugai

 

Mit CEMBALO komponiert Alice Muitoevoli Rugai ein queeres Period Drama. Das Stück changiert zwischen lustvoller Sinnlichkeit und der Auseinandersetzung mit Queerness im historischen Kontext. Queen Eliza und ihre Geliebte, Zofe Charlotte, töten gemeinsam den König. Sie wollen die „Kröne“, um gemeinsam zu „frauschen“, denn im Verb „herrschen“ sind sie ja gar nicht mitgedacht. Allerdings wollen sie dies auch nur metaphorisch, denn die Monarchie lehnen sie ab.Eingesperrt in ihren Gemächern ergehen sich Eliza und Charlotte in verführerischen Duetten am blutenden Cembalo. Die zwei starken Figuren schaukeln lustvoll hin und her zwischen dem Warten auf ihre Hinrichtung und dem Hoffen auf den Anbruch ihrer neuen Zeit.

 

Für Alice Rugai erfüllt der historische Kontext eine metatextuelle sowie eine inhaltliche Funktion: „Eliza und Charlotte betrachten ein Lesbian Period Drama und sind gleichzeitig Teil davon – ihre moderne Beziehung reflektiert die Stilmittel des Genres und eröffnet auch eine bi+ Perspektive. Das Period Drama kann als eine Form der queeren Geschichtsschreibung gesehen werden – eine Möglichkeit, vergangene Narrative neu zu erzählen und Stimmen hörbar zu machen, die lange marginalisiert wurden.”

 

„CEMBALO greift dieses Prinzip auf und dekonstruiert das Genre”, führt Alice Rugai weiter aus,  „um Themen wie Monogamie, Political Lesbianism und Geschlechtsidentität in einem historischen wie gegenwärtigen Kontext zu verhandeln. Dabei folgt das Stück einer eigenen Zeitlogik: einer queer time, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen.Das Stück stellt Fragen, ohne sie abschließend zu beantworten, und eröffnet einen Raum, in dem verschiedene Perspektiven auf Begehren, Identität und Beziehungen nebeneinander existieren können. Durch die Vermischung barocker Elemente mit Ästhetiken des Victorian Age wird keine historische Genauigkeit angestrebt, sondern eine assoziative, zeitlose und symbolische Schreibweise verfolgt. Diese ermöglicht es, verschiedene tragische Motive zu evozieren – etwa den klassischen Topos der Enthauptung des Königs – und sie in einem neuen erzählerischen Kontext zu verhandeln.”


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