Till Wiebel

Theater als Safe Space - Till Wiebels Highschool-Komödie VIER PILOTEN

In diesem Text geht es um VIER PILOTEN von Till Wiebel – eine Auftragsarbeit für das Junge Schauspielhaus Bochum. Es geht aber auch um Highschool-Komödien und queere Vorbilder. Um Coming-outs und Repräsentation im Jungen Theater. Ich erlaube mir, etwas auszuholen, aber keine Angst, nach dem nächsten Abschnitt steigen wir direkt ein:

 

Als ich Anfang der 2000er (Schlecker, Center Shocks, Discman) in meinem katholischen Heimatdorf mit vollem Tempo in die Pubertät bretterte, gab es keine offen lebende queere Menschen in meinem Umfeld. Also habe ich fieberhaft nach Geschichten und Figuren gesucht, mit denen ich mich identifizieren konnte. Das britische Jugenddrama BEAUTIFUL THINGS etwa oder der Jugendroman DIE MITTE DER WELT von Andreas Steinhöfel. Ich war ein absolutes Fernsehkind: Was flimmerte da über den Bildschirm? In den Nullerjahren wurden verstärkt (aber nicht nur) schwule Männer als überdrehte Witzfiguren dargestellt, meist von Hetero-Männern mit süfffisantem Grinsen und dem unendlichen Selbstbewusstsein männlicher Überlegenheit. Ob Stefan Raab, Oliver Pocher oder Michael Bully Herbig - alle hatten großen Spaß daran, Schwule zu überzeichnen und zu karikieren. Wie die Medien überhaupt queere Personen in Talk- und Castingshows vorführten, hat sich eingebrannt in meinem Hirn. Pauschal gesagt: Queerness war die Punchline, und - so empfand ich es zumindest - alle lachten mit. (Mehr dazu: Podcast-Folge 2001#2 von Galerie Arschgeweih) Cut to:

 

Meine letzte Dienstreise im Jahr 2024 führt mich ans Junge Schauspielhaus Bochum. Es ist ein bitterkalter Dezemberabend im Theaterrevier. An diesem Abend ist die freudige Anspannung im Foyer fast schon greifbar - eine vibrierende, lebhafte Atmosphäre: Die Jugendlichen der Drama Control und das Team des Jungen Schauspielhauses wuseln herum, umarmen sich, wünschen sich viel Glück. Bunt schillernde Toi Toi Toi-Geschenke werden ausgetauscht. Alle sind aufgeregt und freuen sich darauf, ihr gemeinsames Projekt in der großen Spielstätte der Öffentlichkeit zu präsentieren. Till Wiebels Jugendstück VIER PILOTEN (13+) ist eine queere, Genre sprengende Schulkomödie im Stile amerikanischer High School-Filme wie z. B. MEAN GIRLS, 10 Dinge, die ich an dir hasse, HIGH SCHOOL MUSICAL oder auch erfolgreicher Serien wie HEARTSTOPPER und SEX EDUCATION. Ein rasanter Theaterabend wird es werden. Juli Mahid Carly setzt das Stück mit viel Empathie für die Figuren in Szene. Eine so geballte Spielfreude erlebt man selten auf der Bühne. Dominik Dos-Reis, Marcel Jacqueline Gisdol, Victor IJdens und Alexander Wertmann schlüpfen rasend schnell in immer wieder neue Rollen und Situationen, spielen den überdrehten Witz genauso leidenschaftlich, wie die ruhigen, schmerzhaft ehrlichen Momente.

 

Die Zwillingsbrüder Sam und Gabriel sind die Neuen auf der Wattenscheid High. Zwei absolute Filmnerds, die zwischen Kurvendiskussion, Photosynthese und Listening Comprehension von einer erfolgreichen Karriere als Regisseure träumen. Ihrem Ziel kommen sie ein Stück näher, als die Schuldirektorin einen Talentwettbewerb ausruft. Das Preisgeld: 100.000 Euro! Sam und Gabriel beschließen, eine eigene Film AG zu gründen. Die Konkurrenz ist groß: die Queerflöten, das lokale Curling-Team und die Streitschlichter:innen haben alle ein Auge auf den Preis geworfen. Die Brüder brauchen Verstärkung. Als das weltenverdammende Goth-Kid Korbinian und das angeblich toughe Sporttalent Skip zur Gruppe dazustoßen, ist das Team komplett. Weil sie sich nicht entscheiden können, ob sie einen Neo-Noir, Horror-Mystery-Thriller (Korbinians Idee) oder eine historische Dramedy-Serie namens “Krone oben ohne” (Skip) drehen wollen, entscheiden sie sich, einfach vier Pilot-Folgen zu produzieren. Was könnte schon schiefgehen? Und neben dem Filmdreh passiert natürlich auch viel Persönliches: Gabriel verknallt sich in den Praktikanten Benni, Skip versucht, mit den Erwartungen seines dauerabwesenden Vaters umzugehen und Korbinian entfremdet sich von seiner Mutter. Werden die Vier neben all dem Gefühlschaos den Talentwettbewerb gewinnen? Nächster Halt: Hollywood?

 

Im Mai schickte mir Till die erste Fassung. Sie umfasste damals 85 Seiten, zahlreiche Nebenfiguren und Plottwists. Ich war schon damals völlig überwältigt von dem überbordenden Schulkosmos, den Till da entworfen hat. Doch das tat er nicht allein: Seit Monaten arbeitete Till Wiebel im Auftrag des Schauspielhauses mit den Jugendlichen der Drama Control an dem Theaterstück VIER PILOTEN. Gemeinsam entwickelten sie die Geschichte und sprachen über Themen und Motive, die in diesem Stück nicht fehlen dürfen. Seit 2019 existiert die Drama Control als Kinder- und Jugendaufsichtsrat und Mitbestimmungskomitee bestehend aus 15 Kindern zw. 6 und 21 Jahren. Sie leiten zusammen mit Cathrin Rose die Spielstätte und sind aktiv an Entscheidungsprozessen beteiligt.

 

Diese enge Zusammenarbeit spürt man auf jeder Seite des Stücks. VIER PILOTEN ist absolut aktuell in einer Zeit, in der noch immer acht von zehn Jugendlichen Diskriminierung wegen ihrer Sexualität und geschlechtlichen Identität erfahren. Während ich in der Premiere sitze, habe ich mich immer wieder gefragt, wie mein jüngeres Ich diese Produktion aufgenommen hätte. Ich glaube, mein Kopf wäre explodiert. Selbstbewusste queere junge Menschen auf der Bühne, die sich die gleichen Fragen stellen wie ich? Ein Stück, das Queerness und LGBTQ*-Themen nicht didaktisch behandelt oder problematisiert? Keine krassen Schicksalsschläge und - mit Blick auf die Nullerjahre - keine verzerrten Karikaturen von queeren Menschen? Mir hat der selbstbewusste Umgang der Figuren mit Queerness im Stück sehr imponiert. Sexualität und Identitäten werden als fluide dargestellt und herrlich beiläufig miterzählt. Tradierte Männlichkeitsbilder werden problematisiert, ein zärtlicher Umgang miteinander wird in den Fokus genommen. VIER PILOTEN ist kein Problemstück über Coming-out und Diskriminierung. Es stellt auch nicht den Anspruch, die queere Community vollumfänglich zu repräsentieren. Vielmehr schafft das Stück für die Figuren, und vielleicht auch für das Publikum, einen Safe Space, um sich der Frage zu stellen: Wer möchte ich sein? Damit reiht es sich ein in eine neue Welle junger, queerer Dramatik an Theatern, die Georg Kasch absolut treffend als “Wunderkammern der Selbstwerdung” bezeichnet. Ein befreiendes und - neben all dem Humor und dem sich entwickelnden Bühnenchaos - ungemein tröstliches Stück Theater. Nicht nur für Jugendliche, sondern auch für alle, die sich noch immer von negativen Darstellungen von Queerness lossagen müssen. Nullerjahre, I look at you.

 

Oliver Franke


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