Eadweard Muybridge konnte Pferde im Galopp nur deshalb fotografieren, weil er für den Mord am Liebhaber seiner Frau Flora freigesprochen wurde. Alexander Kerlin hat diese fatale Verstrickung aus Kunst, Besessenheit und Wahnsinn in BULLET TIME festgehalten. Kay Voges inszenierte das Stück spektakulär als live-verfilmten Theaterwestern im Volkstheater Wien. Friederike Emmerling befragt Alexander Kerlin nach Gerichtsdramen, folgenschweren Schnappschüssen und der visionären Sogwirkung des Silicon Valley.
Du hast ein großes und aufregendes Theaterstück über den berühmten Fotografen Eadweard Muybridge geschrieben. Wie kamst du auf die Idee, die Anfänge der Bewegtfotografie als Gerichtsdrama zu erzählen?
Im Gericht geht es immer um die Frage, welches Bild der Wirklichkeit sich durchsetzt, welches Bild als das wahre Bild in die Geschichte eingehen wird. Insofern spiegeln sich in dem Mordprozess gegen den Erfinder des Kinos auch alle Fragen, die wir an die Fotografie haben: In welchem Verhältnis steht sie zu den Dingen, die sie vorgibt, abzubilden? Was vernichtet sie? Ist sie schuldig? Ist es Wahnsinn, den Bildern überhaupt Glauben zu schenken, wenn doch die Manipulation der Fotografie so alt ist wie die Fotografie selbst? Die Menschen koexistieren jetzt seit knapp 200 Jahren mit der Fotografie, seit 145 Jahren mit dem Bewegtbild. Ich wollte dem 19. Jahrhundert etwas über diesen massiven Epochenbruch ablauschen. Was wurde damals schon an heutigen Problemen und ewigen Freuden angelegt? Der erste Satz des Stücks ist etwas frech: "Unsere Epoche beginnt im Jahre 1876". Ich erzähle die Geschichte von Muybridge also als eine Art Gründungsurkunde unserer Mediengesellschaft, in der Geldinteressen, patriarchale Gewalt und die herrlichste Kreativität zu Komplizen werden. Ich stelle die Fotografie und dann das Bewegtbild selbst vor Gericht. Was man liebt, muss man vielleicht auch anklagen.
Du stellst in der Ankündigung für das Volkstheater Wien die Frage, ob der Auslöser einer Kamera mit dem Abzug einer Pistole verwandt sein könne? Wie würdest du diese Frage selbst beantworten?
Étienne Jules-Marey hat 1883, also neun Jahre nach dem Mord von Muybridge an Larkyns, die Chronofotografische Flinte erfunden. Das ist eine Kamera für serielle Fotografie von Geschwindigkeit, die man mit einem Gewehr verwechseln könnte. In der Uraufführung am Volkstheater hebt das Mordopfer Harry Larkyns die Arme vor der Smith and Wesson #2 von Muybridge genauso wie vor seiner Kamera. Die Verwandtschaft besteht für mich in der Objekt-Subjekt Beziehung, die beide Apparate hervorbringen und durch die sich spontane Machtverhältnisse ausbilden. Eine Person steht im Hellen, die andere im Dunkeln. Eine Person blickt, die andere wird angeblickt. Eine Person löst aus, die andere empfängt. Mit diesen Motiven spiele ich. Wer hat eigentlich die Hoheit über Perspektive, Ausschnitt und Motiv? Flora Muybridge versteht bei mir die Gewalt genau, die durch den Apparat hervorgebracht wird - und verlangt schon in der ersten Szene mit Muybridge, selbst hinter dem Objektiv zu stehen, Täterin zu sein.
Glaubst du, dass Genie und Wahnsinn öfter beieinander liegen? Könnte gar der Ausgangsort der Handlung, das Silicon Valley, für diese Form von Größenwahn besonders anfällig sein?
Muybridge hatte einen schweren Unfall, nach dem er neun Tage im Koma lag. Danach war er wesensverändert, wechselte das Metier, wurde vom einfachen Buchhändler zum gefeierten Erfinder. Ich glaube, dass es eine Art besessener Fokussierung braucht, durch die andere Lebensbereiche vernachlässigt werden, um über Jahre und gegen alle Rückschläge etwas Neues zu entwickeln. Das kann sich in allem Möglichen äußern, mangelnde Hygiene oder soziale Distanzierung oder was auch immer. Ob das gleich Wahnsinn ist? Natürlich nicht immer. Der Wilde Westen hat bis heute diese besondere Anziehungskraft, weil wir es nicht aushalten können, dass jeder Winkel dieser Welt ausgeleuchtet und fotografiert ist. Wir brauchen es als Menschen eigentlich dringend, nicht zu wissen, was hinter der nächsten Hügelkette auf uns wartet. Paul Virilio sprach von Wissenschaft und Kunst als "substitute horizon". Wenn alles kartografiert ist, dann suchen wir in anderen dunklen Winkeln unserer Existenz. Wir finden zum Beispiel heraus, wie man das fotografiert, was zu schnell für das Auge ist (Pferde im Galopp oder Kugeln im Flug). Dieser Geist der Exploration, des Aufbruchs, gegen jeden Widerstand - der steckt tief in der DNA Kaliforniens. Die offene Landschaft, die Regellosigkeit auf den neuen Gebieten (derzeit z.B. KI) und das Geldversprechen erzeugen eine gesteigerte Vorstellung der Gestaltbarkeit von Zukunft, weshalb diese Weltregion für Größenwahnsinnige eine so große Anziehungskraft hat.
Alexander Kerlin
Bullet Time – Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders
UA: 8.9.2024, Volkstheater Wien
Regie: Kay Voges
Bühne: Michael Sieberock- Serafimowitsch
Kostüm: Mona Ulrich
Soundtrack: Paul Wallfisch
Director of Photography: Max Hammel
Dramaturgie: Matthias Seier.
Mit: Frank Genser, Lavinia Nowak, Anke Zillich, Evi Kehrstephan, Fabian Reichenbach, Uwe Rohbeck, Elias Eilinghoff, Uwe Schmieder, Claudia Sabitzer, Christoph Schüchner.
Videoart / Live-Kamera: Manuel Bader, Anton Hammel, Ulrike Schild, Eduardo Trivino Cely, Georg Vogler, Assistenz: Konrad Braun.
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