Leonie Lorena Wyss

Mit Schuhen so leuchtend wie der Abendhimmel

Mit Schuhen so leuchtend wie der Abendhimmel

Leonie Lorena Wyss steht am 10. Februar vor dem Vestibül in Wien und leuchtet. Knallorange. Ihre Schuhe, ihr Lidschatten, ein einziges Farbspektakel. Wie der Himmel in der Schlussszene von MUTTERTIER, als die drei Geschwister sich vorstellen, ein letztes Mal mit ihrer Mutter am Bug der Titanic zu stehen, die Arme weit ausgebreitet, die Haare wehend im Wind, und einfach glücklich sind. Friederike Emmerling erzählt von diesem berührenden Abend.

 


Wie Laura Dittmann, Claudia Kainberger und Lara Sienczak dieses Wechselspiel aus Langeweile, Enttäuschung, Angst, Wut und wilder Freude in der Wiener Uraufführungsinszenierung von Mia Constantine spielen, ist so berührend, dass man sich beim Applaus nur schweren Herzens  von den lebens- und liebeshungrigen Geschwistern verabschieden wollte. Den Lieblingsfilm der Mutter, Titanic, spielend, Titanic schauend versuchen die drei der traurigen Realität zu entfliehen, in der die Mutter immer öfter in ein tablettenbetäubtes Zwischenreich verschwindet. Gleichzeitig müssen sie mit der diffusen Angst umgehen, selbst die Eisberge zu sein, an denen die Mutter zu zerschellen droht. Wie sich die drei Geschwister gegenseitig zu halten versuchen, zu erziehen, zu maßregeln, zu trösten, abzulenken, wie sie singen und toben, wie sie sich gegenseitig Mutter sind, wie sie sich streiten und wieder vertragen, wie unterschiedlich sie auf die abwesende Mutter reagieren und wie der Vater nicht einmal mehr vermisst wird, davon erzählt dieser filigrane und sprachlich äußerst genau komponierte Abend. Das Stück sei eine „hinreissend sprachmusikalische Partitur für drei Geschwisterstimmen“, schrieb die BZ Basel begeistert über MUTTERTIER. Und dass es Leonie Lorena Wyss stets „um menschlich zentrale Beziehungen, um Existenzielles, Erschütterndes“ gehe, gleichzeitig die Dinge immer mit Leichtigkeit und Humor angepackt würden. „Der geheimnisvolle, durchrhythmisierte Gewinnertext des Retzhofer Dramapreises 2023 von Leonie Lorena Wyss gleicht einer poetischen Traumsequenz“, beschrieb der Theaterkompass die flirrenden Rückblicke der Kinder. Die trotz oder gerade wegen ihrer poetischen Verspieltheit und popkulturellen Zitierfreude tiefe Abgründe erahnen lassen. Das Stück rüttelt mit unnachgiebiger Zärtlichkeit an den Grundfesten eines herkömmlichen Mutterbilds, das glücklich und zufrieden zu funktionieren hat. „Sind Mütter – wie der Titel suggeriert – dazu verdonnert, ein Nutztier zu sein? Melkmaschine, Wickelapparat, Trostspendeautomat? Aufopfernd, selbstlos, jederzeit verfügbar? So eine Mutter ist jene im Stück nicht. Diese hier ist psychisch krank und nicht fähig, all diesen Ansprüchen zu genügen. Spätestens da wird klar, dass der Zufluchtsort Titanic nicht zufällig gewählt ist.“, beschrieb der Standard den Widerspruch. Und die BZ Basel konstatiert: „Im Kern ist Leonie Lorena Wyss’ «Muttertier» – neben der Hommage an die vitalen Bedürfnisse der vernachlässigten Kinder – auch ein Plädoyer gegen die Fixierung der Frau auf die reine Mutterrolle, ein Bruch mit der Vorstellung von der ständigen Verfügbarkeit bis zur Selbstaufopferung. Dem Stück ist wohl deshalb auch ein Zitat des feministischen Kollektivs Lastesis vorangestellt: «Wir wachsen mit einem Mutterbild auf, bei dem die Frau an ein Stück Würfelzucker erinnert: immer zur Hand und zur Selbstauflösung bereit.»“ Schmerzhaft und nur scheinbar leichtfüßig hinterfragt dieses Stück veraltete Rollenbilder, beobachtet und beschreibt und sucht mit beharrlicher Hartnäckigkeit nach den kostbaren Momenten, in denen kurz alles leicht scheint und der Himmel so knallorange aufleuchten kann wie die Schuhe der Autorin am Premierenabend.

 


Gute Nachrichten für alle, die in nächster Zeit nicht nach Wien reisen können. Ab dem 28. März wird das MUTTERTIER auch in der Deutschen Erstaufführung am Schauspiel Köln zu sehen sein. Und damit noch nicht genug Wyss. Die Uraufführung ihres Debütstücks BLAUPAUSE, mit dem sie 2023 den Heidelberger Stückemarkt gewann, wird ab dem 26. April 2024 in Heidelberg zu sehen sein.


zurück zum Journal