PLEASE MIND THIS GAP!
Maria Milisavljević ist mit »brynhild« in die Eddalücke geklettert und hat Erstaunliches ans Licht gebracht: Liebe, Frieden und Gerechtigkeit. Wie wäre es den Nibelungen wohl ergangen, wenn dieser Teil der Geschichte nicht verloren gegangen wäre? Über patriarchale Geschichtsschreibung und die pazifistische Ermächtigung der Walkürenkönigin bei Maria Milisavljević sinniert Friederike Emmerling.
Als Maria Milisavljević den Auftrag für eine weitere Wormser Nibelungenüberschreibung bekam, war davon auszugehen, dass die Erzählung einen radikalen Perspektivwechsel erfahren würde. Erstens weil das alle machen, die für Worms schreiben. Zweitens - und das ist in diesem Fall außergewöhnlich - weil noch nie zuvor eine Frau damit beauftragt wurde. Und tatsächlich tat sich auch direkt vor der Autorin ein Abgrund auf: Die Eddalücke. Mit dieser Lücke wird verloren gegangenes Textmaterial der Edda (einem der Urtexte der Nibelungensaga) bezeichnet. Und es wird gemutmaßt (auch aufgrund der Völsung-Saga), dass ausgerechnet eine Erzählung des Friedens von Siegfried und Brynhild und einem gemeinsamen Kind in die Lücke und somit in Vergessenheit geriet. PLEASE MIND THIS GAP. Denn was, wenn das blutige Nibelungenlied einen Ruf nach Frieden und Gerechtigkeit enthielt, aber niemand davon wusste? Schnell war klar, dass es 2023 nicht nur um die Nibelungen, sondern auch um einseitige Geschichtsschreibung, Patriarchat, Krieg und Frieden und Emanzipation gehen musste. Die Eddalücke wurde zum Symbol einer manipulativen Gesellschaft.
Doch wenn der Frieden in die Eddalücke abtauchte, was strahlte umso heller? Der Krieg. Maria Milisavljević meldet mit ihrer Brynhild berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Überlieferten an. Und nimmt deshalb eine spektakuläre Amputation am Nibelungenlied vor: Dem Helden wird die Heldentat genommen. Kein Siegfried, der den Drachen tötet. Dafür ein Sigurd, der im Wahn einen Mensch erschlug. Kein Held, nur ein Mörder auf der Suche nach Erlösung. All der Ruhm und Glanz nicht mehr als Mummenschanz. Und im Isenland eine Walküre, die gegen den Rat der Götter ihre Waffen niederlegt. Brynhild will nicht nur zum Schein, sie will mit ihrem ganzen Sein für Frieden stehen.
Was, wenn das blutige Nibelungenlied den Ruf nach Frieden schuf, aber niemand ihn hörte? Was wenn Sigurd damals Brynhild traf und sie gemeinsam von einer Welt in Frieden träumten: Der gefakte Unbesiegbare und die verwundbare Walküre.
„Brynhild und Sigurd lassen sich nicht länger ihre Rollen vorschreiben. Wie in den Texten, die in der Edda fehlen, entsagen sie dem Töten und dem Krieg und entscheiden sich für die Liebe. Sie entscheiden sich, sie selbst zu sein. Sie stellen sich gegen die Erwartungen und Lügen der Väter.“ (Maria Milisavljević, Fake News, Programmheft Nibelungenfestspiele Worms)
Als Maria Milisavljević den Heidelberger Stückemarkt mit ihrem Stück Beben gewann, wurde diskutiert, ob ihr Happy End eines Kriegsstücks naiv oder genial sei. Sie beschreibt in dem Stück, wie die Mutter eines getöteten Kindes auf den traumatisierten Soldaten zugeht und ihm die Hand reicht. Sie lässt die trauernde Mutter den berühmten ersten Schritt gehen und entwickelt daraus eine berührende Utopie für die Möglichkeit einer friedlichen Zukunft. Es ist nur konsequent, dass Maria Milisavljević auch die große Kämpferin Brynhild stolz und selbstbewusst die Waffen sinken lässt. Für eine bessere Welt. Und wider alle Vorhersagen. Ein Happy End kann es bei den Nibelungen trotzdem nicht geben, aber Maria Milisavljević’ Blick in die Lücke lässt ahnen, dass diese Geschichte bei genauerer Betrachtung auch ganz anders hätte ausgehen können.
Friederike Emmerling
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