Leonie Lorena Wyss

„ich hab dich gestern rückwärts laufen sehen“

„ich hab dich gestern rückwärts laufen sehen“(c) Lea Menges

Vom Glück zu wissen, dass die poetische Anarchistin Leonie Lorena Wyss fürs Theater schreibt. Friederike Emmerling über Vorwärtsdenken beim Rückwärtsgehen, die sinnliche Leseerfahrung der Farbe Blau und die Gefahr einer BLAUPAUSE.


„ich hab dich gestern rückwärts laufen sehen“ sagte Leonie Lorena Wyss, als ich sie das erste Mal sprechen höre. „ich hab dich gestern rückwärts laufen sehen und hab dabei einen Schritt nach vorne gemacht“, sagte sie und meinte damit nicht mich, sondern die Pandabärin Meng-Meng, die irgendwann einfach beschlossen hat in ihrem Gehege des Berliner Zoos nur noch rückwärts zu gehen. Ihre Rede war eine von 97, die 2022 beim Ungehalten-Projekt eingereicht wurden, und in ihr erhebt sie das Rückwärtsgehen zur Königinnendisziplin. Weil dann auf einmal die Dame immer den König schlägt und das Publikum nur noch Hintern zu Gesicht bekommt. Reihenfolgen unterstützen Ordnungen. Aber welche? Und warum? Mit bilderreicher Genauigkeit durchleuchtet Leonie Wyss das Rückwärtsgehen und schenkt dem Kopf eine befreiende Vorwärtsbewegung. Wie poetische Anarchie fühlt sich ihre ungehaltene Rede an, die mit ruhiger Klarheit dekliniert, was jede Ordnung mit einfachsten Mitteln unterlaufen kann: Rückwärtsgehen. Und dann - schon hüpft mein Herz – erzählt sie noch, dass sie ein Theaterstück geschrieben hat: Blaupause. Und wenn ich es nicht schon vorher gewesen wäre, wäre ich Leonie Lorena Wyss spätestens nach der Lektüre dieses Stücks völlig verfallen. In Blaupause erzählt sie die Geschichte eines queeren Frühlings Erwachens, eine junge, heranwachsende Frau, die nach und nach sich selbst und ihr Verlangen nach einer anderen Frau entdeckt. Irgendwann findet sie ihre erste große Liebe und verliert sie auf tragische Weise. Aus den jährlichen Familienfeiern werden unumgängliche Beziehungsstandkontrollen. Dreizehn Cousinenköpfe nicken und wippen und essen und trinken und schauen und hören genau, was passiert. Unsicherheit, Scham und fehlende Worte treiben die Protagonistin immer wieder in poetisch-aromatische Fluchten. So taucht sie ab in Pilzsuppen und Saftgläser, spürt dem Tropfen der Kräuterbutter auf heißen Baguettes nach und weiß sich in der adoleszenten Schwimmbadhitze nur noch mit Bum Bum Eis zu verteidigen. Leonie Wyss schreibt so intensiv physisch, dass ihre Sprache sich wie ein haptischer Anzug überzustülpen scheint. Sie wählt Worte, Form und Rhythmus mit großer Klarheit, um sie dann unter die Haut kriechen zu lassen. Jedes Gefühl erscheint wie unter einem Vergrößerungsglas, so nah zoomt sie ran und wandelt es um in etwas Spürbares. Blaupause ist eine poetische Liebkosung adoleszenter Unsicherheiten, voller Witz und voller Schmerz, eine gedichtete Ausdehnung von Wahrnehmung, eine Ansammlung von Buchstaben, die sich schon beim Lesen nicht mehr mit dem Buchstabendasein zufriedengeben. Mit leichtfüßiger Fantasie löst sich die Autorin Leonie Lorena Wyss vom Vorgegebenen und lässt sich spielerisch lustvoll in neue Möglichkeiten gleiten. Poetische Anarchie und sinnliches Vergnügen. Es wird aufregend sein, ihr auf diesem Weg zu folgen.

 

PS: Überhaupt nicht erstaunlich, dass Blaupause sofort zum Heidelberger Stückemarkt 2023 eingeladen wurde!


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