Sechs ungehaltene Frauen haben am 10. Dezember 2021 sechs ungehaltene Reden gehalten. Und das mit einer Intensität, der kaum zu entkommen war. Wie es dazu kam, und warum diese Reden nur der Anfang von vielen weiteren ungehaltenen Reden sein sollten, davon erzählt Friederike Emmerling in ihrer Eröffnungsrede zum Auftakt der Veranstaltung: Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“.
„Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ hat Christine Brückner ihre berühmten Monologe untertitelt. Allein in diesem Titel liegt so viel Kraft, wie eine Naturgewalt fühlt sich das an. Weil diese Zeile empörte, rabiate, wütende Reden erahnen lässt. Gleichzeitig klingt „ungehalten“ aber auch nach Furor und Selbstbewusstsein. Es ist ein stolzes Wort, ein sich selbst befreiendes. Ungehalten. Was hätten Brückners Frauen wohl gesagt, wenn sie selbst hätten sprechen können? Wir werden es nie erfahren, aber Christine Brückner machte uns ahnen, dass das Unausgesprochene immer weitaus stärker tobt, als Stille vermuten lässt. Was lag also näher, als ihr - und uns - genau das zum 100. Geburtstag zu schenken: Ungehaltene Frauen, die ihre ungehaltenen Reden halten können. Die Stiftung Brückner-Kühner und der S. Fischer Theaterverlag haben in Kooperation mit dem Archiv für deutsche Frauenbewegung Kassel, dem Hessischen Rundfunk und der Stadt Kassel selbst zu Beginn dieses Jahres eine Ausschreibung auf den Weg gebracht: Alle Frauen waren eingeladen, ihre ganz eigenen ungehaltenen Rede zu schreiben, zu halten, zu filmen - und sich mit diesen Filmaufnahmen bei unserem Projekt zu bewerben. Dafür zu bewerben, diese Reden hier und heute vor Publikum halten zu können.
119 Frauen haben sich auf den Weg gemacht und ihre Reden eingereicht. Ob sie heute hier stehen oder nicht, ist eigentlich nebensächlich. Denn wir durften erleben, was für ein enormes Kraftfeld sich mit dem Einreichen jeder weiteren Rede aufbaute. Die Fülle und Vielfältigkeit all dieser Stimmen war überwältigend. Und gerade das Rohe und Ungeschliffene, das Improvisierte und das Riskierte machten regelrecht süchtig danach, in all diese Reden abzutauchen. Wie sollte es möglich sein, aus diesen Reden sechs auszuwählen? Nach welchen Kriterien ist das Ungehaltene auszuwählen? Schlussendlich erleben wir heute einen intensiven Querschnitt durch dieses gewaltige Mosaik ungehaltener Stimmen. Eine Ahnung von dem, was zusammengetragen wurde. Idealerweise soll all das ein zarter Anfang sein, eine Ermutigung an alle Frauen, sich zu fragen, was sie eigentlich selbst sagen würden, wenn da ein Publikum wäre, das zuhört. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet unser Publikum wegen Corona wieder ausgeladen werden musste. Doch wir haben beschlossen, dass uns das nicht mehr anficht. Ungehaltene Reden müssen gehalten werden trotz aller Widerstände. Und deshalb stehen wir trotzdem heute hier und senden die Reden über einen Live Stream in die Welt, hr 2-kultur wird die Reden am 9. und 15. Januar 2022 senden, und die Videos vieler ungehaltener Rednerinnen können unter ungehalten.net selbst eingesehen werden.
Wie schön wäre es, wenn der 10. Dezember 2021 der Anfang wäre für viele noch zu haltende ungehaltene Reden! Es geht nicht um das Professionellste und auch nicht um das Originellste. Es geht darum, sich zu trauen, und damit auch zu riskieren, sich verletzlich zu machen. Doch verletzlich sind wir letztendlich nur, wenn wir verweigern, einander zuzuhören und uns ernst zu nehmen. Wir müssen nicht mit allem, was gesagt wird, übereinstimmen. Aber wir müssen lernen, andere Meinungen zu respektieren. Und uns dazu ermutigen, auf ungehaltene Reden mit einer Gegenrede zu antworten. Wer weiß, vielleicht wird es in Anlehnung an den Hip Hop irgendwann Ungehaltene-Reden-Battles geben? Vielleicht wird es am 10. Dezember eines jeden Jahres immer mehr Frauen geben, die ungehaltene Reden halten? In den Rathäusern und in den Theatern, in den Parks und auf den Marktplätzen. Alles ist möglich. Und es gibt so viel zu sagen. Genau deshalb wollen wir heute beginnen, euch zuzuhören. Ich übergebe das Wort an unsere ungehaltenen Rednerinnen: Maelene Lindgren, Doro Ahlemeyer, Karin Schwalm, Sandra Rosas, Çağla Şahin und Marie-Alice Schultz. Frauen ergreift das Wort! Und lasst das Ungehaltene hörbar werden.
Viele ungehaltene Reden ungehaltener Frauen und weitere Informationen zu dieser Initiative finden sich unter ungehalten.net. Unter dem Titel “Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen” können ab Frühjahr 2022 neunzehn ungehaltene Reden in einer Sonderausgabe der Neuen Rundschau im S. Fischer Verlag nachgelesen werden.
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