In ihrem Reise-Journal beschreibt die Lektorin Barbara Neu, wie sie Anfang November bei einer fast 1500 km langen Theaterreise zwei großartige Premieren erlebte, die kaum unterschiedlicher hätten sein können. Auf ihrem Trip durch die deutschsprachige Theaterlandschaft berichtet sie von gleich zwei Ur- bzw. Erstaufführungen von von Gerhard Meister und Wael Kadour.
Wie ich an einem Novemberwochenende bei einer fast 1500 km langen Theaterreise zwei großartige Premieren erlebte, die kaum unterschiedlicher hätten sein können, und im Theaterglück war.
Zunächst ging es von Frankfurt ca. 400 km nach Süden, ans Vorarlberger Landestheater in Bregenz, wo das Stück von Gerhard Meister, das er im Auftrag des Theaters geschrieben hatte, uraufgeführt werden sollte: WIR REDEN ÜBER POLKE, DAS SIEHT MAN DOCH! Auf der großen Bühne setzte die Regisseurin Bérénice Hebenstreit die spielerische Annäherung Gerhard Meisters an den bildenden Künstler Sigmar Polke, der 2021 80 Jahre alt geworden wäre, ebenso humor- und fantasievoll um. Fünf Schauspieler:innen boten eine rasante, oft komische, unterhaltsame Performance, einen gelungenen Versuch der Annäherung an den Künstler, den das Bregenzer Programmheft den „schalkhaften Bildungsbürgerschreck“ nennt. Es ging darum, was einen Künstler ausmacht, in welchem Verhältnis sein Werk zur Gesellschaft steht, und dabei wurde auf der Bühne geraschelt, geplätschert, Musik gemacht, Schattenbilder projiziert – kurz, sie wurde mit allen Mitteln des Theaters bespielt.
Das erste Theaterglück. Oder in den Worten der Kritik:
„Was für ein gelungener Titel für einen viel mehr als gelungenen Abend, an dem Theater wieder einmal beweist, dass mittels Sprache die schönsten Bilder, mittels Fragen die besten Antworten und mittels Kunst – wenn man sie nicht allzu ernst nimmt – unglaublich viel Witz entstehen kann. … Diesen mitreißenden Text von Gerhard Meister, der am Ende kein Ergebnis liefert und ein abschließendes Fazit verweigert, als Uraufführung in Bregenz erlebbar gemacht zu haben, ist ein großer Wurf.“ (Kultur)
Tags drauf, fast 700 km weiter nördlich, erwartete mich am Theater Osnabrück die deutschsprachige Erstaufführung des Stücks CHRONIK EINER STADT, DIE WIR NICHT KENNEN des syrischen Autors Wael Kadour. Die Inszenierung, die Christian Schlüter zusammen mit dem Autor verantwortete, ist eingebettet in den Syrien-Schwerpunkt, den das Theater sich in dieser Spielzeit gegeben hat.
Die Stadt, um die es geht, ist Damaskus. Das Jahr 2011, der Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Damals wohnte der 1981 geborene Theaterautor Wael Kadour noch dort und erfuhr vom Selbstmord einer jungen Frau, der Ausgangspunkt wurde für sein Stück: Was war geschehen im Leben dieser Frau, die im Stück Nour heißt, dass sie freiwillig in den Tod geht, während in ihrem Land so dramatische Veränderungen stattfinden?
Das Stück beginnt mit der Verhaftung von Roula als politischer Aktivistin. Als die Staatssicherheit auf ihre Kommunikation mit Nour stößt, kommt ihre verbotene Liebesbeziehung ans Licht und wird zum Druckmittel. ... Es folgen Szenen zwischen Roula und z.B. Nours Vater, der seinen Einfluss als Geschäftsmann nutzt, um beide Frauen aus dem Gefängnis zu holen, und der zornig glaubt, dass Roula seine Tochter in ihre revolutionären Aktivitäten hineingezogen hat. Oder Roulas Freund, mit dem sie nicht ehrlich sprechen kann über Nour und der sie beschuldigt, für diese die Sache der Revolution verraten zu haben. Und Nours Mutter, die möchte, dass Roula ihre Beziehung zu ihrer Tochter aufgibt, und die ihr offen droht, als sie sich weigert.
Das Stück ist wie eine Ermittlung aufgebaut und lässt die Gewalt durchscheinen, die eine Gesellschaft nach vielen Jahren der Diktatur auf allen Ebenen durchzieht. In sehr feinfühliger, mitunter poetischer Weise lässt es die Menschen innerhalb dieses Systems zu Wort kommen und tastet sich so heran an die abwesende Nour.
In der konzentrierten, eindringlichen Inszenierung dieses Kammerspiels machten die großartigen Darsteller:innen auf der Studiobühne im Emma Theater das beklemmende Klima der Angst, das das Leben in einem solchen Überwachungsstaat prägt, unmittelbar erfahrbar.
Und für mich war es der zweite, ganz andere, aber ebenso geglückte Theaterabend, der meine Premierenreise abschloss.
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