Im Sommer 2011 blickte die Welt nach Syrien und erwartete den Sturz des Regimes. Der Selbstmord von Nour, einer jungen, gebildeten Frau, zur selben Zeit schien persönliche Gründe zu haben - ihre Liebesbeziehung war zuvor zerbrochen.
Der syrische Regisseur Wael Kadour war 2011 aus Damaskus geflohen, um dem Militärdienst zu entgehen. Mohamad Al Rashi, Schauspieler und Regisseur, folgte ihm nach seiner Haft ein Jahr später nach. Als sie sich in Frankreich wiedertrafen, beschlossen sie, den Tod von Nour als Ausgangspunkt für ihr Projekt Chroniques d’une ville qu’on croit connaître zu nehmen, eine Chronik, in der wir verschiedenen Personen begegnen, die Nour mehr oder weniger nahe standen: einer Krankenschwester, einem Journalisten, Agenten, Freunden und Verwandten. Das Stück beginnt mit der Verhaftung von Roula als politischer Aktivistin. Als die Staatssicherheit bei einer Durchsuchung auf ihre Kommunikation mit Nour stößt, wird die Natur ihrer verbotenen Beziehung bald klar.
Das Stück thematisiert nicht nur die Spirale der Gewalt zu Beginn der eigentlich friedlichen Revolution, sondern es fragt nach der gesellschaftlichen Anfälligkeit für Gewalt am Ende einer vier Jahrzehnte dauernden Diktatur. Chronik einer Stadt, die wir nicht kennen ist ein künstlerisches und menschliches Abenteuer, das denjenigen eine Stimme geben will, die sich entschieden haben, keine mehr zu haben. Und vielleicht Nours Stimme zu hören; die der abwesenden Figur in diesem Stück, deren Name auf Arabisch "Licht" bedeutet.
Der Dramatiker und Theaterregisseur Wael Kadour wurde 1981 in Syrien geboren. Nach seinem Abschluss am Damascus Higher Institute of Dramatic Arts im Jahr 2006 war er 2007 Teilnehmer der International Residency am Londoner Royal Court Theatre. Seit 2008 arbeitete er in verschiedenen Projekten in Syrien, Jordanien und im Libanon. Heute lebt er in Frankreich, wo er im Januar 2019 sein neuestes Stück Chronik einer Stadt, die wir nicht kennen inszenierte. Das vom Deutschlandfunk produzierte Originalhörspiel Die Toten haben zu tun, das er mit Autor Mudar Alhaggi schrieb, ist von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats Januar 2020 gewählt worden.
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