Nuran David Calis & Ebru Nihan Celkan

"Bedeutet meine persönliche Freiheit vielleicht das Gefängnis für einen anderen?" – Nuran David Calis über das Theaterstück LAST PARK STANDING von Ebru Nihan Celkan

©Björn Klein / Schauspiel Stuttgart

Der Regisseur, Romanautor und Dramatiker Nuran David Calis hat LAST PARK STANDING von Ebru Nihan Celkan für das Schauspiel Stuttgart inszeniert. In dem folgenden Essay, das wir hier vollständig veröffentlichen, nähert sich Calis dem Theaterstück durch einen politischen sowie (kunst-)ästhetischen Blickwinkel. LAST PARK STANDING bietet für ihn den Anlass, über interkulturelle Differenzen innerhalb der deutsch-türkischen Community nachzudenken. Über Idenditätspolitik und den Begriff Heimat. Kann das Theater ein Ort sein, an dem Solidarität sichtbar wird? Was kann im Theater Basis des Miteinanders sein? Die Institution Theater könnte so viel mehr sein - ein Heimatlabor, das zur Identitätsfindung einer gesamten Gesellschaft beiträgt. 

 

LAST PARK STANDING

 

Im türkischen Film Winterschlaf von Nuri Bilge Ceylan aus dem Jahr 2014, der im selben Jahr die Goldene Palme in Cannes gewann, gibt es eine Szene, die mich tief bewegte. Die Figur Aydin, ein älterer, sehr intellektuell wirkender Mann, sitzt Abend für Abend an seinem Tisch im Kaminzimmer, um an einem autobiographischen Roman zu schreiben. Hinter ihm auf der Couch liegt lesend seine ungefähr gleichaltrige Schwester Necla, eine zu keinem großen Erfolg gelangte Schauspielerin, die dem türkischen Stadttheaterbetrieb den Rücken gekehrt hat und ihrem Bruder in die Provinz gefolgt ist. Keine namhaften Regisseure hätten ihr Talent erkannt, es waren immer die falschen Stücke ... Auch Aydin beklagt sein Leben: aus ihm hätte ein großer Schriftsteller werden können, ein Romancier von Weltrang, ein Yasar Kemal, wenn er dieses Erbe hier in Kappadokien nicht hätte antreten müssen. Ab und zu werfen sich die beiden gegenseitig vor, Schuld an ihrem verpfuschten Leben zu sein. Aydin und Necla haben also Istanbul verlassen und versuchen nun, ihr Leben im Osten der Türkei fortzuführen, Selbstzerfleischung inklusive.

 

Beim Schreiben stößt Aydin auf den Gedanken, dass es zwei verschiedene Wege gibt, eine Olive zu essen. Der eine Weg ist: Man nimmt sie, wirft sie sich direkt in den Mund und fertig. Den Kern spuckt man einfach aus. Diese Variante führe sofort zur Sättigung des Magens. „Ja“, antwortet seine Schwester, „das kann man so machen, aber das ist ja nicht schön.“ – „Stimmt“, erwidert Aydin. „Die zweite Möglichkeit ist, dass man die Oliven zunächst hübsch anordnet, sie entkernt, sternförmig zusammenlegt und garniert. So hat zunächst auch das Auge etwas davon, bevor die Oliven in den Magen wandern. Ja, stimmt Neclar ihm zu, diese Variante sei viel schöner.

 

Nun ist Hunger ein Grundbedürfnis und je länger man nichts zu essen bekommt, desto größer wird dieses Bedürfnis. Was spielen ästhetischen Gedanken für eine Rolle, wenn der Magen leer ist?!

 

Als ich den Film ein Jahr nach den großen Gezi-Unruhen in Istanbul sah, ging ein Raunen durch den Kinosaal. Einige schüttelten den Kopf, fanden die Borniertheit der „Intellektuellen“ unmöglich, sich zu erheben über die Menschen, die hungern. Die anderen lachten über sie Szene und die kluge und versponnene Freiheit der beiden. Jeder im Saal hatte das Problem erkannt, hatte den Film auf seine Weise verstanden verstanden. In was für einem Land wollen wir leben? In einem, das satt macht? Oder in einem, das mir erlaubt frei zu sein? Soll der Magen oder der Geist gesättigt werden?! Und was setzt was voraus?

 

Hier schlägt der Film für mich eine Brücke zu Ebru Nihan Celkans Theaterstück Last Park Standing. Was ist das Grundbedürfnis der Figuren im Film Winterschlaf und in diesem Theaterstück? Der Hunger nach Freiheit? Danach, sein Leben so zu gestalten, wie man will? Was ist Selbstbestimmung? Wie sich positionieren im Konflikt zwischen dem persönlichen Glück und der Verbundenheit mit der Heimat, der Tradition, der Gemeinschaft? Wen mache ich haftbar für meine Entscheidungen, wenn sie sich am Ende als falsch herausstellen? Wen mache ich haftbar für Entscheidungen, die ich treffe, weil jemand anderes will, dass ich sie treffe - ihm oder ihr zuliebe? Ist es gut, egoistisch zu denken, das persönliche Glück zu suchen? Oder ist es besser, an alle zu denken? Bedeutet meine persönliche Freiheit vielleicht das Gefängnis für einen anderen?!

 

Ganz klar ging an diesem Abend im Kinosaal ein Riss durch die Zuschauerreihen. Zu erkennen war eine Gesellschaft, der die Narrative abhandenkommen, der sie entgleiten. Zu erkennen war die Orientierungslosigkeit der Künstler, mit dem Erbe ihres Landes, mit dem einfachen Volk umzugehen, dessen Sehnsucht sich in erster Linie darauf richtet, den Magen zufriedenzustellen. Diese Sehnsucht deckt sich nicht mit dem Hunger nach Freiheit im Geist. Mit der Sehnsucht, so zu leben, so zu lieben, so zu denken und die Dinge so zu gestalten, wie die Künstler es wollen.

 

Der Gezi Park, wo 2013 die Protestbewegung gegen Erdogan ihr Zentrum hatte, wird abgerissen, damit neue Jobs daraus werden. Die einen denken an den Magen, die anderen an den Geist.

 

Dieser Riss durchzieht auch die türkische Einwanderungsgesellschaft in Deutschland. Somit hat auch das Stück von Ebru Nihan Celkan viel mit unserer Gesellschaft zu tun. Wie reagiert eine Mehrheitsgesellschaft auf eine Minderheit?! Wer schreibt wem vor, was Freiheit ist? Was gut ist?

 

In Last Park Standing ist das Private total politisch und das Politische total privat. Es geht um die Liebe zwischen zwei Frauen, von denen eine in Istanbul und die andere in Berlin lebt. Die Berlinerin will, dass ihre Geliebte alles hinter sich lässt und zu ihr nach Deutschland kommt. Doch die Istanbulerin kann nicht einfach ihren guten Freund, einen homosexuellen Aktivisten, der an der Speerspitze der Gezi-Bewegung steht, alleine zurücklassen. Ebenso wenig wie all die anderen, die für die Freiheit kämpfen. Die beiden Liebenden finden zu keinem gemeinsamen Narrativ. Im Stück – wie und auch im Film Winterschlaf – finden die Figuren zu keiner schlüssigen Erzählung, wie sie miteinander umgehen sollen. Und von hier aus schlagen beide Werke ein Bogen zu uns nach Deutschland und nach Europa, über die türkische Einwanderungsgesellschaft hinaus.

 

Uns fehlt ein gemeinsames Narrativ: Wie wollen wir uns in einer Gesellschaft zueinander verhalten? Wie können wir den Fliehkräften innerhalb einer Gesellschaft etwas entgegensetzen? Wie sehen die Bindekräfte aus? Könnten gemeinsame Werte unsere Narrative werden? Freiheit?! Gleichheit?! Minderheitenschutz?!

 

Beim Versuch dieser Frage nachzugehen, erinnere ich mich an einen schmerzhaften Moment: Während der Proben für das Theaterstück Istanbul am Schauspiel Köln kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Schriftsteller Doğan Akhanlı und Ayfer Şentürk Demir, einer strenggläubigen Muslimin, die den NSU-Bombenanschlag auf die Keupstraße in Köln überlebt hatte. Sie war bereits eine der Protagonistinnen unseres Stücks Die Lücke – Ein Stück Keupstraße gewesen, das sich mit dem NSU-Bombenanschlag befasst hatte. Sie, die hier in Deutschland selbst Opfer rassistischer Gewalt geworden war, wählte in der Türkei einen rassistischen Hetzer, der ohne Skrupel Doğan Akhanlı aufgrund seiner Forderung nach freier Meinungsäußerung verhaften ließ. Ayfer genießt hier in Deutschland alle Freiheiten einer offenen Gesellschaft, so dachte ich, und wählt für ihre Landsleute in der Türkei einen Mann, der das Land in ein Gefängnis verwandelt?!

 

Auf die Frage von Dogan Akhanli, warum sie das getan habe, antwortete Ayfer, Erdogan sei ein guter Moslem. Sie fühle sich in einer Türkei unter seiner Regierung freier, denn dort könne sie ihr Kopftuch überall tragen und ihren Glauben frei ausleben. Anders als hier, so sagte sie, und das sei nun mal ihre Ansicht. Hier sei das Leben für sie ein Gefängnis geworden, in dem sie vor ihren beiden Töchtern, die fünf und acht Jahre alt sind, in der Kölner Bahn angespuckt wird, weil sie ein Kopftuch trage - was ihre Töchter natürlich zum Weinen bringen würde. Das hier sei für sie kein Leben mehr.

 

Diesen Widerspruch, ihre Meinung, ihre Erfahrung, die mich zutiefst traf, musste ich aushalten. Aber in diesem Moment wurde mir auch klar: Hier geht es nicht um die freie Rede, die zu einem gemeinsamen Narrativ führen könnte, sondern um Macht.

 

Ayfer hat mit ihrer Entscheidung, die AKP zu wählen, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Identität und persönliche Freiheit zusammengedacht. Die türkische Minderheit, die sich hier als Opfer einer rassistischen Gesellschaft sieht, wählt einen Mann, der ihnen die Macht zurückgibt, der ihr die Freiheit zurückgibt, die sie hier in Deutschland scheinbar nicht empfinden.

 

Bevor wir die Narrative klären, die zu einer gemeinsamen Identität, zu einer gemeinsamen Freiheit führen könnte, muss die Frage nach der Macht geklärt werden. Wer bestimmt, was Identität ist? Was Freiheit ist? Was Heimat ist? Wie sind die Machtverhältnisse?! Solange wir das nicht klären, steckt unsere ganze Gesellschaft in einer Identitätskrise. Und diese breitet sich immer weiter aus. Viele Länder der Europäischen Union sind von dieser Krise erfasst, aber auch andere Teile der Welt wie die USA, Brasilien etc., um nur einige wenige zu nennen. Sie alle setzen den Begriff der Freiheit unter nationalistische, religiöse, identitäre Vorzeichen.

 

Und was hat das mit dem Theater zu tun?! Theater ist ein öffentlicher Raum. Wo sonst als hier kann man die Frage nach der Macht so gut stellen?! Die Frage nach der Freiheit?! Das Theater ist ein Raum, der sich immer wieder einer Selbstbefragung stellt. Vielleicht könnte ein radikaler Umbau der Institution identitätsstiftend und freiheitsstiftend sein und zu einer gemeinsamen Erzählung führen.

 

Können wir das Theater als einen Ort denken, an dem Solidarität sichtbar wird? Jeden Tag, wenn wir den Bühnenraum betreten, machen wir uns Gedanken darüber, die richtige Haltung zu finden. Position zu beziehen. Ein Stück auszuwählen. Zu besetzen und und und.

 

Was kann im Theater die Basis des Miteinanders sein? Wie kann ein Theaterabend funktionieren, wenn der Inspizient aus der Ukraine kommt und das Stück aus der Feder der alten Griechen? Seit über 2.500 Jahren beleben wir einen Raum, in dem es ums Mitfühlen geht. Wir beklagen Kriege, Verluste, Vertreibung, Leid und Tod. Wir erkennen durch Literatur das Eigene im Fremden - durch Prosa, durch Lyrik, durch Dramatik -, erst danach versuchen wir, ästhetische Fragen zu klären. Das funktioniert nicht durch Abgrenzung, nicht durch Machtkonzentration, wo eine Mehrheit über eine Minderheit entscheidet oder umgekehrt. Theater ist ein Raum, in dem Empathie und Solidarität gelebt werden müssen. Das Nachempfinden, das Mitfühlen - egal ob es einen anzieht oder abstößt - muss wieder das Zentrum des Ganzen werden. Die Welt, die einen umgibt, könnte dann nicht mehr verleugnet werden, der Betrachter nicht mehr getäuscht. Die komplexe Welt, in der wir uns befinden, würde nicht mehr vereinfacht. Kunst ist kompliziert und komplex - es gilt dem Betrachter Anstrengung zuzumuten, um Erkenntnisse aus der Betrachtung zu bekommen. Und vielleicht schafft der Betrachter es dadurch, in größeren Zusammenhängen zu denken und die Ursachen für das Leid anderer zu erkennen.

 

Dieser Ansatz löst sich von dem Gedanken, Rasse, Leitkultur, Identität und Freiheit zusammenzudenken. Niemand könnte mehr einem anderen vorschreiben, was Identität ist, was Heimat ist, was Freiheit, was Leitkultur ist. Keiner, der die Macht hat, könnte einer Minderheit diese Dinge von oben verordnen. Oder umgekehrt.

 

Die Institution Theater, als ein Gesellschaftsmodell gedacht, könnte der Raum werden, der zeigt, dass diese Begriffe in unserer Gesellschaft komplexer und tiefgründiger sind, als wir annehmen. Das Theater könnte zu einer Gegen-Welt werden. Das Theater könnte ein Heimatlabor sein, das zur Identitätsfindung einer Gesellschaft beiträgt. Ein Netzwerk. Eine Plattform.

 

In einer Gesellschaft, die täglich immer weiter auseinanderfliegt, die sich spaltet, könnte das Theater die Bindekraft werden, wie sie jetzt gebraucht wird. Das Theater kann die Frage nach der Macht konsequenter stellen. Denn die Machtfrage ist das eigentliche Hindernis und blockiert die Identitätsfindung, sie vernebelt den Begriff Heimat. Sie vernebelt den Begriff von Freiheit und behindert ein gemeinsames Narrativ.

 

(Nuran David Calis, 2019)


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