Für seine neueste Theaterarbeit NSU 2.0 hat sich Nuran David Calis im Auftrag des Schauspiels Frankfurt auf eine herausfordernde Recherchereise ins Herz der Finsternis des nationalsozialistischen Untergrunds begeben. Unbekannt ist ihm das Thema nicht, bereits 2013 hat er sich in seinem Stück DIE LÜCKE am Schauspiel Köln mit der Mordserie des NSU und dem Anschlag auf der Kölner Keupstraße auseinandergesetzt. Mit großem Erfolg, denn die DIE LÜCKE wurde seither mehr als 120 mal gespielt. Im vergangen Jahr schrieb und inszenierte er dann die Fortsetzung DIE LÜCKE 2.0. Denn der NSU hat sich auch nach dem Tod der Serienmörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und dem Ende der NSU-Prozesse nicht etwa aufgelöst - nein, er lebt weiter als NSU 2.0.
Die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, der Mord am Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke sowie der verheerende Anschlag von Hanau, zeigen , dass der rechte Terror, der bereits in den 90er Jahren mit den Brandanschlägen von Hoyerswerda, Solingen und Mölln begann, keineswegs abreißt, sondern sich kontinuierlich fortsetzt. Diese Kontinuität aufzuzeigen und nachzuweisen, wie sehr sich rechtsextreme Gewalt inzwischen strukturell durch unsere Gesellschaft zieht und wie sehr sie unser aller Sicherheit bedroht, darum geht es Nuran David Calis in seinem semi-dokumentarischen Theaterabend mit dem Titel NSU 2.0 - seiner ersten Arbeit am Schauspiel Frankfurt.
Seit 2018 werden Drohmails mit dem Absender NSU 2.0 an Menschen verschickt, die sich öffentlich gegen Rassismus und Antisemissmus engagieren oder z. B. für Geflüchtete eintreten. Die Adressdaten der Bedrohten - überwiegend Frauen - wurden teilweise von Polizei-Rechnern auch in Frankfurt abgerufen. Nuran David Calis hat für sein Stück die Empfänger*innen solcher E-Mails befragt. So erzählen Politiker*innen wie Katrin Göring-Eckardt, Renate Künast, Sevim Dağdelen oder Cem Özdemir in eigens für den Theaterabend produzierten Videoaufnahmen von ihren erschreckenden Erfahrungen. Für sein Projekt hat Nuran David Calis außerdem mit Opfern rechtsextremer Gewalt in Hessen gesprochen, die Verwicklungen der hessischen Polizei recherchiert und aus dem Material gemeinsam mit seinem Regie-Team und den Frankfurter Spieler*innen Torsten Flassig, Lotte Schubert und Mark Tumba einen eindringlichen Theaterabend entwickelt. Ein Theaterstück, in dem aber nicht nur die Opfer zu Wort kommen, sondern auch Originalaussagen der Täter aus den Gerichtsprotokollen zu hören sind. Warum er nicht nur über die Opfer spricht, erklärt Nuran David Calis im Interview mit dem Dramaturgen Alexander Leiffheidt:
”Neben den Geschichten der Opfer ging es uns auch darum, sichtbar zu machen, dass die Täter nicht in einem Einzelraum unterwegs sind. Sondern wir haben versucht, Zusammenhänge zwischen den Tätern ästhetisch und inhaltlich einzuordnen, damit die Zuschauer:innen auf dieses Werk blicken und die komplexen Narrative, die die Täter verbinden, besser begreifen können.”
Dabei geht es ihm zum einen darum, die Thesen vom Einzeltäter zu entlarven und zu zeigen, dass es ein rechtsextremes Netzwerk gibt, das verantwortlich für den Terror ist. Aber zum anderen auch, um zu verdeutlichen, dass die Opfer nicht nur die anderen sind. Alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, können Opfer werden, das sollen sich die Zuschauer bewusst machen. Und wie schmal der Grat zum Denken der Rechtsextremen bisweilen sein kann. Vivan Bhatti, der für die Musik des Abends verantwortlich ist, ergänzt,
“Der wesentliche Unterschied und das Privileg, das wir haben, ist, dass wir nicht wie ein Gericht oder wie Journalisten Antworten liefern müssen, sondern dass wir Fragen stellen können. Das ist die große Kraft, die Theater hat.”
Die Premiere dieses lang erwarteten Theaterabends war für den März in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt geplant. Nun wird NSU 2.0 zunächst als Livestream im Mai zu sehen sein, bevor die Pandemie dann hoffentlich bald eine Aufführung vor Publikum zulässt. Aber egal in welcher Form - NSU 2.0 von Nuran David Calis ist ein eindringlicher Appell zum Widerstand. Denn: “Es könnte jederzeit wieder passieren. Wir müssen aufeinander aufpassen.”
NSU 2.0. Eine Stückentwicklung von Nuran David Calis im Auftrag des Schauspiels Frankfurt. Uraufführung verschoben.
Team: Regie: Nuran David Calis / Bühne: Anne Ehrlich /Kostüme: Anna Sünkel / Video und Recherche: Karnik Gregorian / Komposition und musikalische Einrichtung: Vivan Bhatti / Dramaturgie: Alexander Leiffheidt. Mit Torsten Flassig, Lotte Schubert, Mark Tumba
Zitate stammen aus dem Programmheft der Produktion.
zurück zum Journal